Samstag, 16. November 2013

Albert Camus : Fragen der Zeit

Albert Camus wäre am 7. November dieses Jahres 100 Jahre alt geworden.
Am 17. Oktober bildete die Wochenzeitung Die Zeit auf ihrer Titelseite ein Foto Camus' ab, neben dem geschrieben stand "Albert Camus - Der Mann, der uns Gott nahm".
Um meinen Blog zu schreiben, habe ich sehr viel von Camus gelesen und so kann ich der hier gemachten Aussage nicht zustimmen. Albert Camus wollte keinem Menschen Gott nehmen.
In seinem Vortrag Der Ungläubige und die Christen, den er 1948 im Dominikanerkloster von Latour-Maubourg hielt schreibt er:
„Es gibt zunächst ein gewisses areligiöses Pharisäertum, das zu vermeiden ich versuchen will. Als areligiöse Pharisäer bezeichne ich die Leute, die vorgeben, es sei eine Kleinigkeit, Christ zu sein, und die sich anschicken, im Namen eines nur von außen gesehenen Christentums mehr von den Christen zu fordern als von sich selbst. Ich bin in der Tat überzeugt, dass der Christ zu vielen Dingen verpflichtet ist, dass es aber einem Menschen, der selber diese Verpflichtungen ablehnt, nicht zusteht, sie einem anderen, der sie bereits erkannt hat, in Erinnerung zu rufen.
Zum zweiten möchte ich auch festhalten, dass ich mich nicht im Besitz irgendeiner absoluten Wahrheit oder einer Botschaft fühle und deshalbe niemals vom Grundsatz ausgehen werde, die christliche Wahrheit sei eine Illusion, sondern nur von der Tatsache, dass ich ihrer nicht teilhaftig zu werden vermochte.
Nach diesem Bekenntnis fällt es mir leichter, meinen dritten und letzten Grundsatz auszusprechen.
Er ist einfach und eindeutig. Ich werde nicht versuchen, irgend etwas an meinen oder Ihren Gedanken zu ändern, um eine uns allen wohlgefällige Versöhnung der Standpunkte herbeizuführen. Vielmehr möchte ich Ihnen heute sagen, dass die Welt ein echtes Zwiegespräch nötig hat, dass das Gegenteil eines Dialogs ebensogut Lüge heißt wie Schweigen und dass ein Zwiegespräch deshalb nur zwischen Menschen möglich ist, die das bleiben, was sie sind, und die wahr sprechen. Mit anderen Worten: die heutige Welt verlangt von den Christen, dass sie Christen bleiben.
Albert Camus, Fragen der Zeit, S.65-66

Samstag, 23. Juni 2012

Das Heil

RankeWeltGeschichte
An einem lauen Nachmittag ging Orélie gemächlichen Schrittes zu dem mit Jurik ausgemachten Park. Als sie ihn aus der Ferne auf einer Bank sitzend entdeckte, beschleunigte sie ihre Schritte. Jurik schien bei der Begrüβung mit seinen Gedanken anderweitig zu sein, und Orélie fand schnell heraus, dass er über etwas nachgrübelte. Er hatte in Albert Camus' Roman Der erste Mensch gelesen, dessen Manuskript bei Camus' tödlichem Autounfall am 4. Januar 1960 in seiner Mappe gefunden wurde. Dreißig Jahre später wurde der Roman nach dem Manuskript und einer Maschinenabschrift, die seiner Frau Francine zu verdanken ist, veröffentlicht.
„In diesem Buch suchte Camus nach seiner Herkunft und so auch nach seinem Vater, den er nicht kannte, weil er im Ersten Weltkrieg bei der Schlacht an der Marne lebensgefährlich verwundet wurde und am 11. Oktober 1914 in Saint-Brieuc starb”, begann Jurik mit dem Gespräch und fuhr fort, „Albert Camus gab sich in dem Roman den Namen Jacques Cormery, und er suchte das Grab seines Vaters in dem Karree des Souvenir français auf dem Friedhof von Saint-Brieuc auf. Beim Lesen des Geburts- und Todesjahrs seines Vaters wurde er sich plötzlich bewusst, dass der hier begrabene Mann jünger war als er. Camus schreibt: „ Und die Welle von Zärtlichkeit und Mitleid, die auf einmal sein Herz überflutete, war nicht die Gemütsregung, die den Sohn bei der Erinnerung an den verstorbenen Vater überkommt, sondern das verstörte Mitgefühl, das ein erwachsener Mann für das ungerecht hingemordete Kind empfindet – etwas entsprach hier nicht der natürlichen Ordnung, und eigentlich herrschte hier, wo der Sohn älter war als der Vater, nicht Ordnung, sondern nur Irrsinn und Chaos.”
„Ja”, antwortete Orélie, „und Jacques besuchte auch den Friedhof von Mondovi, dem Dorf in dessen Geburtenregister Albert Camus' Geburt eingetragen wurde. Jacques Cormery fand die Soldatengräber in Saint-Brieuc besser in Stand gehalten als die Gräber von Mondovi, doch schreibt er: „Das Mittelmeer trennte in mir zwei Welten, die eine, wo auf abgemessenen Flächen Erinnerungen und Namen konserviert waren, die andere, wo der Sandwind die Spuren der Menschen auf weiten Flächen auslöschte. Er hatte versucht, der Anonymität, dem Leben in Armut und eigensinniger Unwissenheit zu entrinnen, er hatte nicht auf der Ebene dieser blinden Geduld ohne Sätze, ohne anderes Vorhaben als das Unmittelbare, leben können. Er hatte sich in der Welt herumgetrieben, hatte Wesen errichtet, erschaffen, verbrannt, seine Tage waren berstend voll gewesen. Und doch wusste er jetzt im Grunde seines Herzens, dass Saint-Brieuc und das, was es repräsentierte, nie etwas für ihn bedeutet hatten, und er dachte an die verwitterten, grün gewordenen Steinplatten, von denen er gerade weggegangen war, und akzeptierte mit einer irgendwie seltsamen Freude, dass der Tod ihn in seine wahre Heimat zurückführte.”
„Für Albert Camus kam es darauf an, das Dasein des Menschen und ein ihm eigenes Naturgefühl höher zu werten als die Beispiele der Geschichte. So schreibt er auch: „Indem der Mensch die Wüsten bevölkerte, jeden Streifen Strand in Grundstücke aufteilte, sogar den Himmel mit groben Flugzeugstrichen schraffierte und nur jene Gegenden schonte, wo der Mensch eben nicht leben kann, hat gleichermaβen und zur gleichen Zeit das Geschichtsgefühl nach und nach das Naturgefühl im Herzen der Menschen unter sich begraben und dabei dem Schöpfer entzogen, was ihm bis dahin zukam, um es dem Geschöpf zurückzugeben, und dies alles in einer so mächtigen und unaufhaltsamen Bewegung, dass wir den Tag voraussehen können, an dem die stille Schöpfung der Natur restlos durch die scheuβliche, aufdringliche Schöpfung des Menschen verdrängt sein wird, die vom Geschrei der Revolution und Kriege dröhnt, vom Lärm der Fabriken und der Eisenbahn, unwiderruflich schlieβlich und siegreich im Ablauf der Geschichte; und dann hat sie ihre Aufgabe auf dieser Erde erfüllt, die vielleicht darin bestand, zu demonstrieren, dass alles noch so Groβartige und Erstaunliche, was sie in Jahrtausenden zu vollbringen vermochte, nicht soviel wert war wie der flüchtige Duft der Heckenrose, das Tal der Olivenbäume, der Lieblingshund.“
„Hier können wir auf Karl Rahner zu sprechen kommen”, antwortete Jurik, „der in seinem Buch Zur Theologie der Zukunft in dem Kapitel Weltgeschichte und Heilsgeschichte Wesenszüge des Christentums herausstellte und hierbei auch einer Geschichtsauffassung widersprach, nach der die Weltgeschichte sich positiv weiterentwickelt und schließlich auf den ewigen Frieden zusteuert. Rahner schreibt:„ Das Christentum kennt keine Geschichte, die aus ihrer inneren Dynamik heraus sich in das Reich Gottes selbst hinein entwickelt, ob man dieses Reich als Reich des aufgeklärten Geistes, der völlig zivilisierten Menschen, der klassenlosen Gesellschaft oder wie immer konzipieren will. Das Christentum bestreitet, dass sich die Weltgeschichte auf den ewigen Frieden hin entwickelt, wenn dies auch nicht heiβt, dass der Krieg, der immer sein wird, gerade mit Hellebarden oder Atombomben ausgetragen werden müsse. Das Christentum weiβ, dass jeder Fortschritt in der Profangeschichte auch ein Schritt zur Möglichkeit gröβerer Gefährdung und tödlicher Abstürze ist. Die Geschichte wird nie die Stätte des ewigen Friedens und des schattenlosen Lichtes sein, sondern das Land des Todes und der Finsternis, wenn dieses Dasein gemessen wird an dem absoluten Anspruch des Menschen, den zu stellen Gott dem Menschen die Möglichkeit, ja sogar die unausweichliche Pflicht schenkt."
„Wir können festhalten, dass Albert Camus und Karl Rahner die Geschichte der Menschheit skeptisch beurteilten und sie nicht überbewerteten. Albert Camus stellte das Dasein des Menschen in den Vordergrund seiner Betrachtungen. Und hierbei wies er auf die Revolte hin, die er mit einem Pendel in der Geschichte verglich, dessen Angelpunkt eine den Menschen gemeinsame Natur bildet. Er schreibt: „Die revolutionäre Verirrung erklärt sich zunächst aus der Unkenntnis oder der systematischen Verkennung jener Grenze, die untrennbar von der menschlichen Natur zu sein scheint und die gerade die Revolte offenbart. Da das nihilistische Denken diese Grenze vernachlässigt, gibt es sich schließlich einer stets gleich beschleunigten Bewegung anheim. Nichts hält es mehr auf in seinen Konsequenzen, es rechtfertigt nun die totale Zerstörung oder die unbegrenzte Eroberung. Wenn die von der Revolte entdeckte Grenze alles verwandelt, wenn jedes Denken, jede Tat, die einen gewissen Punkt übersteigt, sich selbst verneint, gibt es tatsächlich ein Maß der Dinge und des Menschen. In der Geschichte ist die Revolte ein Pendel, dessen Schwingungen außer Rand und Band geraten, weil es seinen eigentlichen Rhythmus sucht. Aber diese Regellosigkeit ist nicht vollständig, sie vollzieht sich um einen Angelpunkt herum. Zu gleicher Zeit, da sie eine den Menschen gemeinsame Natur nahelegt, bringt die Revolte das Maß und die Grenze ans Licht, die das Prinzip dieser Natur sind.” Und so rief Albert Camus zu einer natürlichen Bescheidenheit auf. „Es gibt also für den Menschen eine Tat und ein Denken, das auf der mittleren Ebene, der seinigen, möglich ist. Jedes ehrgeizige Unternehmen erweist sich als widerspruchsvoll. Das Absolute wird nicht erreicht und vor allem nicht geschaffen durch die Geschichte. Die Geschichte kann nicht mehr zum Gegenstand des Kults erhoben werden. Sie ist nur eine Gelegenheit, die es gilt, durch eine wachsame Revolte fruchtbar zu machen.”
„Karl Rahner erteilte auch jedem Absolutheitsanspruch der Geschichte eine Absage”, antwortete Jurik, „und er wehrte sich genauso dagegen, die Geschichte zum Gegenstand des Kults zu erheben. Doch im Gegensatz zu Camus betrachtete Rahner die Geschichte in ihrem Zusammenhang mit dem Heil. Und hierbei muss festgehalten werden, dass der Mensch von sich aus nicht in der Lage ist, irgendeinen Zustand in der Geschichte und der Welt als sein Heil zu erkennen. Das Heil ist kein Besitz des Menschen und lässt sich in der Welt nicht ausfindig machen. Rahner schreibt: „Heil ist nirgends einfach in der Welt antreffbar. Es wäre sogar eine absolute Grundhäresie, wollte ein Mensch irgendeinen antreffbaren Zustand in der Welt, der schon gegeben ist oder vom Menschen selbst durch eigene Planung und Tat realisiert werden kann, als sein Heil verstehen. Das Heil als absolut transzendentes Geheimnis, als das von Gott her unverfügbar Kommende gehört zu den Grundvorstellungen des Christentums. Das vollendete Heil ist kein Moment in der Geschichte, sondern deren Aufhebung, kein Gegenstand des Besitzes oder der Herstellung, sondern des Glaubens, der Hoffnung und des Gebetes." „Doch ereignet sich Heil dennoch jetzt und zwar als Selbstmitteilung Gottes”, merkte Orélie an, „Karl Rahner schreibt: „Die Gnade Gottes wird dem Menschen zuteil als wirklich schon jetzt gegebene, als angenommene und innerlich verwandelnde und diese Gnade ist, weil sie im Grunde die Selbstmitteilung Gottes an den Menschen ist, nicht bloß Vorläufiges, nicht bloß Mittel zum Heil, oder dessen Ersatz, sondern dieses Heil selbst.”
„Und Rahner weist hier auf Jesus Christus hin: „Die Geschichte der Welt bewegt sich schon jetzt nicht bloß innerhalb der Macht der sich selbstmitteilenden Liebe, sondern auch schon im Äon der Erscheinung des Sieges, im Äon Jesu Christi, der die radikale geschichtliche Erscheinung der endgültigen Selbstzusage Gottes an die Welt und der Annahme dieser Zusage durch die Welt in substantieller Einheit ist.”
„Aber wir müssen nochmals klarlegen”, hob Jurik hervor, „dass für Karl Rahner das Heil nicht in der endgültigen Freiheitsentscheidung des Menschen angesiedelt ist. Rahner schreibt: „Das Heil ist ja nicht so die Endgültigkeit der Freiheitsentscheidung des Menschen, dass er durch seine Freiheit dieses Heil einfach schüfe. Das Heil ist Gott, ist seine Selbstmitteilung, ist Gottes Freiheitstat, die Gott selbst ist, weil es in der wirklichen Ordnung kein Heil gibt als eben Gott selbst. Dieser Gott aber in seiner freien Selbstmitteilung, im gnadenhaften Geschenk seiner eigenen ewigen Herrlichkeit muss zwar in Freiheit angenommen werden, wenn auch diese Annahme nochmals die geschenkte Tat der Freiheit des Menschen ist, die Gott in seiner Selbstmitteilung selber gibt. Aber der sich mitteilende Gott kann in seiner eigenen Wirklichkeit nur unmittelbar erfahren werden in der unmittelbaren Schau Gottes, also in einem Ereignis, das die Vollendung und Aufhebung der Geschichte und nicht ein Moment an ihr ist. Der Mensch wirkt seine Geschichte und sie fällt ungerichtet dem unerforschlichen Gericht Gottes anheim, die Geschichte birgt ihren Ewigkeitsgehalt in das schweigende Geheimnis hinein, sie kann ihn nicht selbst genießen.”
„Und deshalb schreibt Karl Rahner in seiner Schrift Wagnis des Christen: „Der Akt der Annahme des Daseins in Vertrauen und Hoffnung ist darum der Akt eines Sichloslassens in das unbegreifliche Geheimnis hinein. Der Christ kann Gott nicht als einen und durchschauten Posten in die Rechnung seines Lebens einsetzen, sondern nur als das unbegreifliche Geheimnis annehmen, schweigend und anbetend, und dieses als Anfang und Ende seiner Hoffnung und so als sein einziges endgültiges und alles umfassendes Heil.” „Und was die Geschichte betrifft, so bleibt diese für den Menschen ungedeutet und gleichzeitig Aufgabe”, machte Orélie geltend, „Rahner schreibt: „Gerade weil das Heil nicht einfach die immanente Frucht der Profangeschichte ist, ist das Christentum dieser Profangeschichte gegenüber skeptisch. Es entlässt den Menschen in seine weltliche Aufgabe, gerade weil er in der Verhülltheit und Zweideutigkeit dieser irdischen Aufgabe sein Heil als das aus Glauben wirken soll. Aber eben diese weltliche Aufgabe ist für das Christentum die immer unvollendete, die im letzten immer wieder scheiternde. Denn sie hat für den einzelnen Menschen immer eine absolute Grenze, den Tod.” „Ja”, antwortete Jurik, „doch muss der Mensch in der Profangeschichte seine Aufgabe finden. Rahner schreibt: „Und indem die Heilsgeschichte eine von ihr verschiedene Profangeschichte als solche von sich absetzt, schickt sie den Menschen in eine entmythologisierte Welt hinaus, die das Material der Aufgabe ist, die dem Menschen gestellt ist. Die Heilsgeschichte schickt also den Heilssuchenden auch in die profane Geschichte hinaus, die dunkel, ungedeutet, unübersehbar, Aufgabe bleibt, und gebietet ihm, es darin auszuhalten, sich darin zu bewähren, im Ungedeuteten an den Sinn zu glauben, so gerade Gott als das Heil anzunehmen.”

„Albert Camus betonte auch das Unerklärbare, Ungerechte und den Tod in der Geschichte,” gab Orélie zu verstehen, „Camus schreibt: „Ich erscheine als Sieger, weil ich lebe. Aber ich befinde mich in der gleichen Finsternis wie ihr, und meine einzige Zuflucht ist mein Wille als Mensch. Weit entfernt, aus der Geschichte etwas Absolutes zu machen, lehnt der Rebell sie ab und bestreitet sie im Namen einer Idee, die er von seiner eigenen Natur hat. Er weist sein Geschick zurück, und dieses ist zum großen Teil geschichtlich. Die Ungerechtigkeit, die Vergänglichkeit, der Tod offenbaren sich in der Geschichte. Wer sie verwirft, verwirft die Geschichte selbst. Gewiss leugnet der Rebell nicht die Geschichte, die ihn umgibt, in ihr versucht er vielmehr sich zu behaupten. Doch er steht vor ihr wie der Künstler vor der Wirklichkeit, er stößt sie zurück, ohne sich ihr zu entziehen. Keinen Augenblick macht er aus ihr etwas Absolutes.“ „Und so verteidigte Albert Camus in der Kunst eine allen Menschen gemeinsame Würde, er schreibt:
„Die Kunst lehrt uns zumindest, dass der Mensch sich nicht mit der Geschichte erschöpft und dass er auch in der Natur einen Lebensgrund findet. Der große Plan ist für ihn nicht tot. Seine instinktive Revolte fordert, während sie gleichzeitig den allen gemeinsamen Wert und die Würde betont, zur Stillung ihres Hungers nach Einheit beharrlich einen unverletzten Teil der Wirklichkeit, den man Schönheit nennt. Man kann die ganze Geschichte ablehnen und doch mit der Welt der Sterne und des Meers übereinstimmen. Die Revoltierenden, die die Natur und die Schönheit ignorieren wollen, verurteilen sich dazu, aus der Geschichte, die sie machen wollen, die Würde der Arbeit und des Seins zu verbannen. Diese unbotmäßige und zugleich treue Moral ist auf jeden Fall die einzige, den Weg einer wahrhaft realistischen Revolution zu erhellen. Indem wir ihre Schönheit erhalten, bereiten wir den Tag ihrer Wiedergeburt vor, da die Zivilisation in den Mittelpunkt ihrer Gedanken, fern von den formalen Prinzipien und den erniedrigten Werten der Geschichte, jene lebendige Kraft stellen wird, welche die Welt und Menschen gemeinsame Würde begründet.”

Jurik und Orélie hatten in der Zwischenzeit den Park verlassen und gingen durch die von Menschen belebten Straßen.

Sonntag, 3. Juni 2012

Anonyme Christen

Christa Duris René Leynaud
Marwin nahm auf dem Balkon an dem von Orélie schon vorbereiteten Kaffeetisch Platz, und teilte ihr nach einer Weile mit, wieder mal in Albert Camus' Tagebüchern gelesen zu haben.

„Auch nachdem Albert Camus sich keine materiellen Sorgen mehr zu machen brauchte, bewahrte er das Andenken an die Jahre seiner Kindheit, die Sanftheit seiner Mutter und die häusliche Armut, derentwegen er am Gymnasium von so manchem reichen Freund, der nie zu ihm nach Hause gekommen war, überrascht oder verstohlen angeblickt wurde. Zwar riefen solche Blicke unweigerlich ein Gefühl der Scham in ihm hervor, aber er schreibt dennoch:

„In diesem Leben der Armut, unter diesen schlichten oder eitlen Leuten bin ich dem am nächsten gekommen, was mir als der wahre Sinn des Lebens erscheint.“

„Ja“, antwortete Orélie, „das Gefühl, echte Reichtümer verloren zu haben, bemächtigte sich seiner, und in seinem Essay Zwischen Ja und Nein schreibt er:

„In der Armut liegt eine Einsamkeit, aber es ist eine Einsamkeit, die jedem Ding seinen Wert verleiht. Von einem gewissen Grad des Reichtums an scheinen sogar der Himmel und die sternenübersäte Nacht selbstverständliche Güter. Auf der untersten Sprosse der Leiter jedoch gewinnt der Himmel wieder seinen ungeschmälerten Sinn: er ist eine köstliche Gnade. Sommernächte, unerforschliche Geheimnisse, in denen Sterne aufsprühten!“

„Das Wort Gnade taucht in seinen Tagebüchern öfters auf, und an einer Stelle verbindet er es mit dem Wort Wunder.

„In meiner Jugend forderte ich von den Menschen mehr, als sie geben konnten: eine beständige Freundschaft, ein unwandelbares Gefühl. Heute verstehe ich es, weniger von ihnen zu fordern, als sie zu geben vermögen: ein Zusammensein ohne Phrasen. Und ihre Gefühle, ihre Freundschaft, ihre edlen Taten bewahren in meinen Augen ihren ganzen Wert als Wunder: eine ausschließliche Wirkung der Gnade.“

„Hier sollten wir Karl Rahner zu Wort kommen lassen“, äußerte sich Marwin, „für den die Gnade „das Getragensein des menschlichen Seins und Selbstvollzugs durch die Selbstmitteilung Gottes ist.” Und so schreibt Rahner:

Diese gnadenhafte Selbstmitteilung Gottes ist von vornherein in der geistigen Wirklichkeit des Menschen gegeben. Die Gnade Gottes wird dem Menschen zuteil als wirklich schon jetzt gegebene, als angenommene und innerlich verwandelnde. Schrift und Überlieferung bezeugen dieses letzte Geheimnis unseres Daseins, dass Gott sich selbst in seiner eigenen unendlichen und unbegreiflichen Wirklichkeit, in Gnade uns mitteilt. Es gibt keinen menschlichen Selbstvollzug, in dem nicht reflex oder unreflex Selbstmitteilung Gottes, also Gnade, schon mit am Werke ist, also auch Momente der Offenbarung schon mit im Spiel sind. Es ist für den Menschen, der Gnade als ein gar nicht vermeidbares Existential seiner Existenz „hat“, gar nicht möglich, innerhalb dessen, was er reflex von sich und seiner Welt verbalisiert vor sich bringt, säuberlich zu unterscheiden, was darin der Offenbarung und was der bloß natürlichen Erkenntnis Gottes zu verdanken ist, was daran natürliche und was gnadenhaft befreiende Freiheit ist.“

„Wir können nicht unterscheiden”, hob Orélie hervor, „was natürliche und was gnadenhaft befreiende Freiheit ist, weil wir nicht richten können und wie Rahner schreibt, das letzte Urteil, das Weizen und Unkraut eindeutig scheidet, Gott allein zusteht.“ Doch schreibt Rahner von einem Urvertrauen:

„Insofern der Christ dieses sein Urvertrauen getragen weiß durch Gott selbst, nennt er diese ihm innerlichste Bewegung seiner Existenz auf Gott hin durch Gott „Gnade”. Der Christ billigt jedem Menschen, der dem Spruch seines Gewissens treu ist, diese innerste Bewegung in Gott auf Gott hin zu, auch wenn er sie noch nicht als solche reflektiert und ihre geschichtliche Erscheinung in Jesus Christus als solche selbst in der Reflexion eines ausdrücklich christlichen Glaubens noch nicht zu ergreifen vermochte.“

„Und in einer Meditation auf Pfingsten, die unter dem Titel Erfahrung des Geistes veröffentlicht wurde, schreibt Rahner zu der Transzendenzerfahrung im Menschen: Die Gott anwesend-sein-lassende Transzendenzerfahrung ist faktisch immer (wegen des Heilswillen Gottes allen Menschen gegenüber, durch den der Mensch auf die Unmittelbarkeit Gottes hin ausgerichtet wird) Erfahrung des Heiligen Geistes, gleichgültig, ob ein Mensch reflex seine unausweichliche Erfahrung des namenlosen Gottes so interpretieren kann oder nicht.” „In diesen Zusammenhang ist auch der von Karl Rahner geprägte Begriff „anonymes Christentum” einzuordnen”, sagte Marwin, „aber es muss von vornherein festgehalten werden, dass es Rahner nicht um diesen umstrittenen Begriff als solchen ging. Entscheidend ist, wie Rahner schreibt, „dass jemand in der Gnade Gottes leben kann, auch wenn er das Evangelium und die ausdrückliche Lehre des Christentums nicht gehört hat. Dort, wo ein Mensch in einem letzten Vertrauen sich und seine Existenz annimmt, wo er den Nächsten liebt, wo er sich selber in einem letzten Vertrauen auf die Sinnhaftigkeit des Daseins loslässt, und auch dort, wo er gewissermaßen die Rechnung seines Lebens nicht mehr durchführen kann, da realisiert ein Mensch das, was man ›Glaube, Hoffnung und Liebe‹ nennt. Und er ist dadurch ein gerechtfertigter Mensch. Er ist ein Mensch, in dem der Heilige Geist Gottes wohnt und wirkt, ein Mensch, der durch den Tod hindurch Gott unmittelbar als solchen finden kann. Wenn man dies ›anonymes Christentum‹ nennen will, kann man es tun. Wenn einem dieser Begriff gefährlich oder missverständlich zu sein scheint, dann mag man diesen Begriff lassen. Aber dass es außerhalb der amtlichen römisch-katholischen Kirche und außerhalb auch aller christlichen Konfessionen Menschen gibt oder geben kann, die in Gottes Gnade und Liebe geborgen sind und die durch den Heiligen Geist jene Grundwirklichkeit haben, die sakramental durch die Taufe vermittelt wird, daran kann heutzutage kein Zweifel mehr sein.“

Rahner geht von dem christlichen Grundsatz aus, der auch in seiner Meditation Erfahrung des Geistes deutlich gemacht wird, dass Gottes Zusage des Heils sich an die ganze Menschheit richtet, also auch an die Nichtchristen. Gottes Heilszusage ist universal. Karl Rahner schreibt:

„Wenn es eine Einheit der geistigpersonalen Geschichte der Menschheit gibt, ist jedes darin für alle bedeutsam, und darum ist das Ursakrament Jesus Christus schon immer aufgerichtet über alle Zeiten und Räume dieser einen Geschichte. Das Christentum ist darum für mich das Einfachste, weil es das eine Ganze des Daseins meint, dieses Ganze mit dem sterbenden Jesus gelassen und hoffend in die Unbegreiflichkeit Gottes versenkt und alle Einzelheit im Leben als solche uns überlässt, ohne auch dafür schon ein Rezept zu geben. Aber das Einfachste ist auch das Schwerste. Es ist Gnade, aber die allen angebotene Gnade.“

„Hör dir hierzu Albert Camus an“, sagte Orélie darauf, „der in seinen Tagebüchern schreibt:

„So viele Menschen entbehren der Gnade. Wie können wir ohne die Gnade leben? Wir müssen uns wohl oder übel darein schicken und tun, was das Christentum nie getan hat: uns der Verdammten annehmen.“

„Karl Rahners Theologie nimmt sich, wie wir gerade herausgestellt haben, der Verdammten an”, antwortete Marwin, „und so hat ein Christ das Recht und die Pflicht, die Erlösung für alle Menschen zu erhoffen. Rahner sagte in einem Gespräch:

„Aber wenn ich für mich die Gnade und die Vergebung Gottes erhoffe, dann habe ich auch das Recht und die Pflicht, dasselbe für jeden Menschen zu hoffen. Ich brauche als Christ also nicht die Position einzunehmen, es sei sicher, dass viele Menschen verdammt seien, und nur für mich hätte ich das Recht, etwas Besseres nämlich die Erlösung zu erhoffen.“

Orélie stimmte zu und zitierte aus Karl Rahners Vortrag, den er anlässlich seines achtzigsten Geburtstages an der Katholischen Akademie in Freiburg hielt:

„Aber wenn auch die Theologie bei uns meist nur nachdenkt, wie die kirchlich und sakramental Betreuten vor das Angesicht Gottes selber kommen, müsste sie sehr viel mehr darüber nachdenken, wie man sich einigermaßen die Odyssee aller Menschen, auch der Nichtchristen, und selbst der Atheisten so denken könne, dass sie in Gott selbst mündet. Es mag eine ungeheuerliche Anmaßung der Kreatur sein, wenn ein einzelner sich nicht retten lassen will, ohne dass er sähe, wie sein Nächster gerettet werde. Es kann aber auch ein sublimer, letztlich von jedem Christen geforderter Akt seiner Nächstenliebe sein, wenn er eigentlich nur in der Hoffnung für alle für sich selber hofft und darum darüber nachdenkt, wie die Gnade Gottes, die letztlich Gott selber in seiner Selbstmitteilung ist, wirklich über alles Fleisch und nicht nur über ein paar sakramental Gezeichnete ausgegossen ist.“

„Albert Camus lehnte es für sich nicht ab, unter der Gnade Gottes zu stehen. Aber die Christen sind seiner Meinung nach zu diesem von Karl Rahner geforderten Akt der Nächstenliebe nicht bereit. Camus schreibt:

„Glückliche Christen. Sie haben die Gnade für sich behalten und uns die Barmherzigkeit überlassen. Ich weigere mich nicht, dem Höchsten Wesen entgegenzugehen, aber ich lehne einen Weg ab, der von den Menschen wegführt. Wissen, ob wir Gott am Ende unserer Leidenschaft finden können.“

„Auch widersprach Albert Camus, wenn er von Christen beschuldigt wurde, eine pessimistische Weltanschauung zu vertreten“, brachte Marwin zum Ausdruck”, „Camus schreibt:

„Mit welchem Recht wollte ein Christ mir Pessimismus vorwerfen? Nicht ich habe behauptet, der Mensch sei unfähig, sich aus eigener Kraft zu erlösen, und auf dem Grunde seiner Erniedrigung bleibe ihm schließlich keine Hoffnung außer der auf die Gnade Gottes.“

„Für Karl Rahner kann der Mensch nur durch die Gnade Gottes erlöst werden, doch ist das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen für diesen Theologen nicht von der Erniedrigung des Menschen geprägt“, sagte Orélie darauf, „Rahner schreibt:

„Denn was sagt das Christentum eigentlich? Doch nichts anderes, als: das Geheimnis bleibt ewig Geheimnis, dieses Geheimnis will sich aber als das Unendliche, Unbegreifliche, als das Unaussagbare, Gott genannt, als sich schenkende Nähe in absoluter Selbstmitteilung dem menschlichen Geist mitten in der Erfahrung seiner menschlichen Leere mitteilen.“

„Und in einer Meditation über die Aussage, dass Gott mit uns ist “, schreibt Karl Rahner:

„Der Satz, Gott sei mit uns, sagt in seinem radikal christlichen Verständnis, dass wir gar nicht maßlos genug sein können in unserem von Gott durch sich selbst gegebenen Durst nach Freiheit, nach Glück, nach Nähe der Liebe, nach Erkenntnis, nach Friede und Endgültigkeit.“

„Lass uns nun zu Albert Camus‘ Antwort auf den gegen ihn erhobenen Vorwurf des Pessimismus kommen“, fuhr Marwin fort, „Camus schreibt:

„Während das Christentum in bezug auf den Menschen pessimistisch ist, ist es optimistisch in bezug auf das Geschick der Menschheit. Ich versichere, meinerseits, dass ich in bezug auf die Conditio humana pessimistisch bin, aber optimistisch in bezug auf den Menschen. Wie können sie nur übersehen, dass nie zuvor ein solcher Schrei des Vertrauens zum Menschen laut geworden ist? Ich glaube an den Dialog, an die Aufrichtigkeit.“

„Das für Albert Camus unerlässliche Vertrauen zum Menschen ist für Karl Rahner nicht nur Sache des Menschen, sondern durch Gottes Gnade gegeben. Rahner schreibt:

„Wo ein Mensch sein Leben lebt in bedingungsloser, selbstloser Liebe, in einer letzten Treue, die nicht mehr belohnt wird, in einer Verantwortung des einsamen, von niemandem mehr kontrollierten und belobten Gewissens, da vollzieht er einen hoffenden Glauben an seine bleibende Endgültigkeit, ob er es reflektiert oder nicht.“

„Hör dir hierzu folgende von Albert Camus geschriebene Sätze an“, antwortete Marwin, „die ich in seinen Tagebüchern gefunden habe, und die geradezu von Karl Rahner stammen könnten:

„Sich Gott zuwenden, weil man sich von der Erde gelöst und der Schmerz einen von der Welt getrennt hat, ist sinnlos. Gott braucht Menschen, die mitten in der Welt stehen. An eurer Freude findet er Gefallen.“
„Dem können wir ein paar Sätze von Karl Rahner hinzufügen, die er 1966 in seinem vor Studenten gehaltenen Vortrag Intellektuelle Redlichkeit und christlicher Glaube gesprochen hat: Das Christentum besteht hartnäckig und unerbittlich darauf, dass diese überhelle schweigende Finsternis, die unser Leben umschließt und alles durchdringt, die Helligkeiten nämlich und die eigenen Finsternisse, von uns nicht übersehen werde, dass wir in unserem Dasein uns nicht wegschleichen von dieser Unheimlichkeit, sondern ihr standhalten, zitternd, aber ent-schlossen auf sie hin, sie nennen bei ihrem namenlosen Namen, ohne mit ihrem Namen unsere Götzen zu schmücken. Wenn man aus „intellektueller Redlichkeit” keinen Götzen macht, wenn man nicht meint, der Skeptiker sei davor am ehesten bewahrt, Irrtum für Wahrheit zu halten, wenn man nicht meint, man könne eine theoretische Epoche auch in die Tat des Lebens hinein fortführen, dann verbietet die intellekuelle Redlichkeit gewiss nicht zu glauben, an die Wirklichkeit sein Leben zu wagen, die das Christentum hat und bekennt. Man ist dann durch diese hohe Tugend dazu nicht gezwungen, aber man ist auch durch sie ermächtigt. Denn auch sie gewinnt ihren letzten und einzigen Sinn nur, wenn sie sich vollendet im Mut zum Geheimnis des Daseins und zur Liebe.

„Hier sollten wir auch auf Albert Camus‘ christlichen Freund René Leynaud zu sprechen kommen, der am 24. August 1910 in Lyon geboren wurde und dessen Eltern aus der Ardèche stammten“, setzte Orélie das Gespräch fort, „Leynaud war Journalist und schrieb Gedichte, die Albert Camus nach dem Krieg mit einem von ihm geschriebenen Vorwort herausgab. Begegnet sind sich die beiden in der Widerstandgruppe Combat, und René Leynaud war vierunddreißig Jahre alt, als ihn französische Milizsoldaten am 16. Mai 1944 in Lyon anhielten. Da er Unterlagen der Résistance bei sich trug, unternahm er einen Fluchtversuch, der nicht gelang, weil ihm die Soldaten gezielt in die Beine schossen. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Krankenhaus wurde er in die Festung Montluc gebracht, die der deutschen Besatzung als Gefängnis diente. Er blieb dort bis zum 13.Juni 1944. An diesem Tag bereiteten die deutschen Besatzer die Evakuierung von Lyon vor und wählten unter den Inhaftierten neunzehn Männer aus, die aktiv an der Widerstandsbewegung beteiligt gewesen sein sollten und unter denen sich auch René Leynaud befand. Sie wurden in das Gestapo-Hauptquartier an der Place Bellecour gebracht und nach einem Verhör in einen Lastkraftwagen verfrachtet. Am Ausgang der in der Nähe von Lyon liegenden Ortschaft Villeneuve wurden sie in drei Gruppen aufgeteilt. Die erste Gruppe wurde von den Soldaten aufgefordert, sich auf einen kleinen Wald zuzubewegen und dabei wurden die sechs Männer durch mehrere Schüsse in den Rücken getötet. Die Männer der zwei anderen Gruppen wurden auf die gleiche Weise ermordet. Welcher Gruppe René Leynaud angehörte, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Die Tatsachen sind bekannt geworden, weil einer der Männer sich trotz seiner entsetzlichen Verwundungen bis zu einem Bauernhaus schleppen konnte. In seinem Vorwort zu den Gedichten schreibt Albert Camus über René Leynaud:

„Da er sehr zurückgezogen lebte, ganz in der Liebe zu Frau und Sohn und in den Notwendigkeiten des Kampfes aufging, besaß er nicht sehr viele Freunde. Aber ich kenne keinen einzigen Menschen, der ihn liebgewonnen und dann nicht mit aller Kraft geliebt hätte. Denn er strahlte Vertrauen aus. Soweit dies einem Menschen überhaupt möglich ist, setzte er sich in allem, was er tat, rückhaltlos ein. Er hat nie gefeilscht, und darum ist er ermordet worden. Kräftig wie die kleinen, stämmigen Eichen seiner Heimat, war er seelisch und körperlich aus kernigem Holz geschnitzt. Nichts vermochte ihn zu beirren, wenn er einmal entschieden hatte, was richtig war. Es brauchte einen Kugelregen, um ihn zu bezwingen.“

„René Leynaud übernahm Verantwortung, auch wenn sie ihn zermalmte, und er sich nach einem besseren Leben sehnte. So schreibt Albert Camus:

„Dieser Mann entzog sich keiner Pflicht und besaß darin um so größeres Verdienst, als er die ganze Last der Pflicht fühlte. Zuweilen übermannte ihn Müdigkeit und verlieh ihm jenes verstockte Aussehen, das ihn vorübergehend der Welt entfremdete. Er war allem, was er liebte, zu nahe, seiner Frau, seinem Kind, einem bestimmten Leben, um nicht von einer Zukunft zu träumen, da diese Liebe nicht in Gefahr schweben würde und er selbst der sein könnte, der er wirklich war.“

„Zum letzten Mal sah Albert Camus ihn im Frühjahr 1944 in Paris, und sie vereinbarten miteinander, nach dem Krieg zusammenzuarbeiten. Camus schreibt:

„Leynaud sollte nach Paris ziehen und seinen guten Willen mit dem unseren verbinden.“

René Leynaud schreibt in seinem letzten Brief an Albert Camus:

„Möge Gott uns noch dieses Jahr und ein paar andere gewähren, und das Glück, derselben Wahrheit zu dienen. Das ist es, was ich Ihnen und mir für das Jahr 1944 wünsche, da mir heute daran liegt, Sie nicht von einer gewissen Idee zu trennen, die ich von mir selber hege und die hoffentlich nicht unwürdig ist.“

„In René Leynauds Beurteilung von Albert Camus kommt zum Ausdruck, was unter Karl Rahners Begriff „anonyme Christen” zu verstehen ist. Rahner schreibt:

„ So gibt es ein anonym begnadetes Humanes, das meint, reine Menschlichkeit zu sein. Wir Christen können es besser verstehen als es sich selbst. Wenn wir in der Glaubenslehre sagen, dass auch das menschlich Sittliche in seinen innerweltlichen Dimensionen der Gnade Gottes bedürfe, um groß und lange sich bewahren zu können, dann ist eben für uns Christen auch solches Humane, wo immer es sich wirklich zeigt und wo es auch außerhalb des ausdrücklich Christlichen gegeben ist, Gabe der Gnade Gottes.“

„Ich stimme dir bei“, antwortete Orélie, „ René Leynaud sah in dem Glück derselben Wahrheit zu dienen kein Privileg für sich als Christen, sondern er schloss seinen Freund mit ein.”

Und Albert Camus schreibt in seinem Vorwort zu den Gedichten von René Leynaud:

„Wenn ich indessen einen seiner Briefe abwandeln dürfte, würde ich einfach sagen, dass ich oft ein Bild um Rat frage, das er in mich gelegt hat, oder eine Kraft, die seinen Namen und sein Antlitz trägt. Die Wahrheit hat Zeugen nötig. Leynaud war einer dieser Zeugen und darum fehlt er mir heute. Mit ihm zusammen war mir vieles klarer, und sein Tod hat mich nicht nur nicht besser gemacht, wie in den Trostbüchlein zu lesen steht, sondern meine Auflehnung noch blinder werden lassen. Er hätte mir in dieser Auflehnung nicht beigepflichtet, und das ist wohl das Höchste, was ich von ihm sagen kann.“

Marwin schaute Orélie an, und sie nickte zustimmend.

Sonntag, 8. April 2012

Jesus Christus

Christus

Das Frühjahr war eingekehrt, und Orélie, Jurik und Marwin hatten sich zum Picknicken auf einer Wiese eingefunden. Sie breiteten eine Decke aus, ließen sich auf ihr nieder und teilten die mitgebrachten Getränke sowie die mit Wurst, Schinken oder Käse belegten Brote untereinander auf. „Sonderbar“, sagte Orélie, „wir werden uns nun stärken und mir kommt bei diesem Gedanken eine Aufzeichnung aus Albert Camus‘ Tagebüchern in den Sinn, die sich auf den französischen Schriftsteller Roger Martin du Gard bezieht. Martin du Gard konnte die furchtbare Agonie seiner krebskranken Mutter nicht vergessen und litt seitdem an Selbstmordgedanken, was mehrfach dazu führte, dass er sich mit einem Revolver erschießen wollte. Er war des Lebens überdrüssig geworden, und nichts bereitete ihm Vergnügen, bis er eines Tages am Eingang eines Restaurants auf einer Menütafel das Wort Bouillabaisse las. Er verspürte einen gewaltigen Hunger auf die Fischsuppe, kehrte in die Gaststätte ein und bestellte sie. Dann aß er die Suppe mit großem Genuss. Doch danach fühlte er sich wieder eingeengt und ausgehöhlt. Albert Camus hielt in seinem Tagebuch fest: „Er lebt im Wartezimmer, schreibt er mir. Der menschlichste Mensch, dem ich begegnet bin, das heiβt der der Zärtlichkeit würdigste.“ „Kurz vor Martin du Gards Tod”, äuβerte sich Jurik, „besuchte Camus den Siebenundsiebzigjährigen, der sich wegen seines Gelenkrheumatismus selbst in seiner Wohnung nur mühsam fortbewegen konnte. Während ihres gemeinsamen Gesprächs erwähnte Martin du Gard den Tod und die Dringlichkeit, sich nicht allein gelassen zu fühlen, wobei sich seine Augen mit Tränen füllten. Einige Monate später starb er, und Albert Camus notierte am 23. August 1958 in seinem Tagebuch: „Ich sehe noch, wie dieser Mann, dem ich herzlich zugetan war, zu mir im Mai in Nizza von seiner Einsamkeit und vom Tod sprach. Er schleppte seinen schweren und gebrochenen Körper vom Tisch zum Sessel. Und sein schöner Blick... Man konnte ihn lieben, ihn achten. Tiefer Kummer.“
„Albert Camus konnte sich genauso wenig mit dem Tod abfinden”, sagte Marin darauf, „doch lieβen heimische Bilder von Algerien ein Gefühl der Erkenntlichkeit in ihm wach werden, das er in Worte einkleidete: „Der graue und sanfte Himmel. In der Mitte der Ruinen lösen die Wellenschläge des etwas unruhigen Meers das Piepsen der Vögel ab. Der riesige und schwere Chenoua. Ich werde sterben, und dieser Ort wird fortfahren, Fülle und Schönheit auszuteilen. Nichts Bitteres in dieser Vorstellung. Sondern im Gegenteil ein Gefühl der Dankbarkeit und der Verehrung. Am Morgen, in Tipasa, der Tau auf den Ruinen. Die jüngste Frische der Welt auf dem, was am ältesten ist. Dies ist mein Glaube und meiner Ansicht nach das Prinzip der Kunst und des Lebens.“
„Und in seinem Tagebuch hielt er fest: „Gewisse Abende, deren Milde sich lange hinzieht. Die Gewissheit, dass solche Abende auch nach uns wiederkehren werden, hilft uns beim Sterben. Nicht mit Skrupeln kann ein Mann groβ werden. Die Gröβe kommt, wie es Gott gefällt, wie ein schöner Tag.“
„Wir müssen klarlegen“, fuhr Marwin fort, „dass Albert Camus mit dieser Gröβe keine Ewigkeit, kein ewiges Leben in Einklang brachte. So schreibt er im Hinblick auf den Sommer in Algerien, dem Land, in dem er aufgewachsen war und in das es ihn immer wieder zurückzog: „Und leben heiβt: nicht entsagen. Das wenigstens ist die bittere Lehre des algerischen Sommers. Aber schon schwankt der Sommer und neigt sich seinem Ende zu. Nach so viel Heftigkeit und Härte sind die ersten Septemberregen wie die ersten Tränen der erlösten Erde, als empfände selbst dieses Land ein paar Tage lang etwas wie Zärtlichkeit. In dieser Zeit verbreiten die Johannisbrotbäume ihren liebeerregenden Duft über ganz Algerien – abends, wenn nach dem Regen der feuchte Leib der Erde einen Geruch wie bittre Mandeln ausströmt und ausruht, nachdem er sich den ganzen Sommer der Sonne hingegeben hat. Aufs Neue bekräftigt dieser Duft die Hochzeit des Menschen mit der Erde und erweckt in uns die einzige, wahrhaft männliche, hochherzig-vergängliche Liebe in dieser Welt.“
„Albert Camus schreibt von „der Hochzeit des Menschen mit der Erde” und „einer brüderlich – geheimen Verbundenheit mit der Erde”, die für ihn bewundernswert ist:
„Ich bewunderte und bewundere auch heute dieses Bündnis von Mensch und Erde, diese doppelte Wechselwirkung, in die mein Herz eingreifen und sein Glück diktieren darf bis zu jener genau bestimmten Grenze, wo die Erde es vollenden oder zerstören kann. Florenz! Einer der wenigen Orte in Europa, wo ich begriff, dass im innersten Kern meiner Auflehnung ein Einverständnis schlief. Unter seinem aus Tränen und Sonne gemischten Himmel lernte ich, Ja zur Erde zu sagen und in der düstern Flamme ihrer Lebensfeier zu verbrennen. Ich ertrug… aber was? Welches Wort? Welches Übermaβ? Ich ertrug die Erde!“
„Hier sollten wir auf Karl Rahner zu sprechen kommen”, sagte Jurik, „der in seine Theologie die Erde mit einbezieht und für den, wie er schreibt, das Bittgebet „die erdhafte Selbstverteidigung in das Licht und die Liebe Gottes hineinhebt.” Rahner schreibt: „Christliches Bittgebet ist ein Schrei vitalster Selbstbehauptung, unmittelbarsten Lebensdranges, ein ganz ursprünglicher, menschlicher Notschrei. Und doch ist dieses Bittgebet auch zumal ganz göttlich: Mitten in dieser Verteidigung der Erde vor und gewissermaßen gegen Gott ist Ihm, dem Unbegreiflichen, alles übergeben, lässt sich solcher Lebensdrang und solche Selbstbehauptung willig und von allen Seiten und bedingungslos umfassen von Gottes Willen. Weil das Bittgebet die irdische Not und das irdische Verlangen, die erdhafte Selbstverteidigung in das Licht und die Liebe Gottes hineinhebt, werden diese Dinge eben doch vorläufig vor dem Wesentlichen, vor Gott durchscheinend für das Höhere, hineingerissen in jene Bewegung, die alles, ob irdische Erfüllung oder irdische Not und Untergang, weiterträgt in das Leben Gottes. In dieser gottmenschlichen, geheimnisvollen Einheit von menschlichem Willen vor Gott und Ergebung in den Willen Gottes, in dieser Einheit, wo Gott den Willen der Erde nimmt, ihn in seinen Willen verschlingt und gerade so ihn bewahrt, wird dann auch die Untrüglichkeit der göttlichen Verheiβung von der Erhörung des wahren Bittgebetes möglich und begreifbar.“
„Die Erhörung wurde mit Jesus Christus offenbar, und seither ist uns verheiβen, dass unser Bittgebet von Gott erhört wird“, gab Orélie zu verstehen, „Karl Rahner schreibt: „Die Erhörung durch den Vater ist dem Sohn zu eigen, sie ist uns verheiβen als Kindern des Vaters und als Brüdern des Christus.“
„Daher hat für einen Christen, wie Rahner schreibt „diese ganze Natur- und Menschheitsgeschichte einen Sinn, einen seligen und verklärten Sinn. Aber wenn wir dies sagen, wenn wir die Unendlichkeit als den Sinn des Endlichen erklären, dann reden wir nicht bloβ von einem fernen Ideal, von dem wir als noch gänzlich unverwirklichtem vage hoffen, es möge einmal eintreten. Nein, wir sagen „Ostern“, Auferstehung. Und das heiβt: es hat schon begonnen. Die Stelle, wo solcher Anfang des vollendeten Endes erschienen ist, heiβt Jesus von Nazareth, der Gekreuzigte und Auferstandene. Es hat alles schon wirklich begonnen, gut zu werden. Es ist noch ungefähr alles unterwegs. Aber unterwegs zu einem Ziel, das nicht ein utopisches Ideal, sondern eine schon daseiende Wirklichkeit ist.“ „Und Karl Rahner stellte auch eine Vereintheit der Erde mit Jesus Christus her”, erklärte Marwin, in seiner Schrift Glaube, der die Erde liebt schreibt Rahner: „Wenn wir Jesus bekennen als aufgefahren zu den Himmeln Gottes, so ist das nur ein anderes Wort dafür, dass er uns die Greifbarkeit seiner verklärten Menschlichkeit eine Weile entzieht, und vor allem dafür, dass kein Abgrund mehr ist zwischen Gott und der Welt. Christus ist schon inmitten all der armen Dinge dieser Erde, die wir nicht lassen können, weil sie unsere Mutter ist. Er ist im namenlosen Harren aller Kreatur, die, ohne es zu wissen, harrt auf die Teilnahme an der Verklärung seines Leibes. Er ist in der Geschichte der Erde, deren blinder Gang in allen Siegen und allen Abstürzen mit unheimlicher Präzision auf seinen Tag zusteuert, auf den Tag, an dem seine Herrlichkeit, alles verwandelnd, aus ihren eigenen Tiefen brechen wird.”
„Albert Camus nannte in einem Tagebucheintrag, der gleichzeitig François Mauriac betrifft, Jesus Christus auch seinen Erlöser“, sagte Orélie darauf: „Mauriac. Bewundernswerte Macht seiner Religion: Er gelangt zur Nächstenliebe ohne den Umweg über die Groβmut. Er hat unrecht, mich unablässig auf die Angst Christi zu verweisen. Mir scheint, dass ich mehr Achtung davor habe als er, da ich mich nie berechtigt gefühlt habe, das Leiden meines Erlösers zweimal wöchentlich auf der Titelseite einer Zeitung für Bankiers zur Schau zu stellen.“
„ Albert Camus trauerte mit Jesus und schreibt: „Das Christentum vermochte uns nur so tief zu ergreifen wegen seines Mensch gewordenen Gottes. Aber seine Wahrheit und seine Gröβe hören am Kreuz auf, und zwar in dem Augenblick, da er seine Verlassenheit herausschreit. Und er war kein Übermensch, das dürfen Sie mir glauben. Er hat seine Todesangst herausgeschrien, und darum liebe ich ihn, meinen Freund, der da starb mit der Frage auf den Lippen.“
„Ja”, antwortete Jurik, „für Albert Camus war der Ruf Jesu am Kreuz „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ entscheidend, weil mit dieser Frage Jesus die menschliche Not herausschrie. Und Karl Rahner betonte ebenso das Menschsein Jesu und schreibt:
„Jesus ist gestorben, wie wir sterben werden: in jener Finsternis, in die er das „Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" hineinstöhnte.”
„In seiner Schrift Was heißt Jesus lieben? schreibt Rahner, dass in der Liebe zu Jesus „sich gerade jener letztlich einzig unbedingte und radikale Akt der menschlichen Existenz ereignet, in der der Mensch sich Gott ergibt und seine ewige strahlende und radikal geheimnisvolle Unbegreiflichkeit annimmt. Der, der Jesus liebt, liebt ja den, dessen Geschick er in dieser Liebe teilen will und, gerade wenn er dieses tut, ergibt er sich in Jesu Todesschicksal. Er ist bereit, alles mit dem sterbenden Herrn in die Unbegreiflichkeit Gottes hineinfallen zu lassen. Schweigend und bedingungslos, auch wenn dieser Gott finsterer zu sein scheint als die Absurdität etwa bei Sartre oder Camus.” „Und gerade im Hinblick auf den Karfreitag wandte sich Karl Rahner an die wie Albert Camus am Tod leidenden Menschen und schreibt: „Sie sollten ihre Nacht als Teil des Karfreitags des Sohnes erkennen. Wenn sie entsetzt den Eindruck haben, Gott sei tot in ihrem Herzen, dann teilen sie – o wenn sie es doch glaubend begriffen – das Todesschicksal des Gottes, der selber für sie wirklich sterben wollte, der tot sein wollte, damit sie leben und glauben, dass auch die fernste Ferne noch umfangen sein kann von der schweigenden Liebe ihres Gottes. Jesus ringt mit dem Willen Gottes bis aufs Blut und hat sich doch schon immer Ihm ganz ergeben. Er schreit seine Not empor und fühlt sich der Erhöhung schon immer gewiss. Wir wissen um das Leben Jesu, das wie unseres war, voll Mühe und Armseligkeit; wir kennen seine Liebe zu dem unbegreiflichen Gott, den er seinen Vater nannte, und zu den Menschen, die er bedingungslos liebte. Wir wissen im Glauben der Christenheit, dass er gerade durch den Sturz in den Abgrund eines gottverlassenen Todes sein Leben in die Hände Gottes bergen konnte, dass er in seinem Untergang siegte, sich und die Unbegreiflichkeit Gottes als seliges Leben fand. Wir nennen diesen Sieg durch den Tod, diesen endgültigen Aufgang durch den Untergang, seine Auferstehung. Wir blicken auf sein Leben und Sterben, und sein Geist schenkt uns die auch für uns hoffende Zuversicht, die wir den christlichen Glauben nennen. Die Antwort heiβt Jesus Christus. In ihm, Jesus von Nazareth, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, sind wir gewiss, dass weder Ideen noch Mächte und Gewalten, weder die Last der Tradition noch die Utopie unserer Zukünfte, weder die Götter der Vernunft noch die Götter unserer eignen Abgründe, noch überhaupt etwas in uns und um uns uns trennen wird von der Liebe, in der der unsagbare Gott in seiner alles umfassenden Freiheit sich selbst uns gegeben hat in Christus Jesus unserem Herrn.“
Und Albert Camus schreibt in seinem Essay Der Mensch in der Revolte : „Steig vom Kreuz herab, und wir werden an dich glauben“, riefen schon die Henkersknechte auf Golgatha. Aber er ist nicht herabgestiegen, ja er hat sich im Augenblick der qualvollsten Agonie bei Gott beklagt, dass er ihn verlassen habe. Es gibt also keine Beweise mehr, sondern nur den Glauben und das Mysterium.“ „Karl Rahner schreibt zu diesem”, sagte Jurik, „dass Jesus diese Übergabe fertiggebracht hat und darin endgültig von dem angenommen wurde, der ihm diese Übergabe gab, und dass im Gelingen dieser Übergabe bei Jesus auch uns sich Gott unwiderruflich zugesagt hat.” „Und in einem Gebet der Besinnung schreibt Karl Rahner: „Es gibt nur zwei letzte Worte: Gott und Mensch, ein einziges Geheimnis, in das ich mich völlig, hoffend und liebend, ergebe. Dieses Mysterium ist ja in seiner Zwiefalt wahrhaft eines, es ist eins in Dir, Jesus Christus. „Und so schreibt Karl Rahner auch: „Man braucht sich nur auf diesen konkreten Menschen liebend und unbedingt einlassen. Dann hat man alles. Freilich muss man mit ihm zusammen sterben. Aber diesem Schicksal entrinnt keiner. Warum also nicht mit ihm, indem man in einem mit ihm sagt: Mein Gott, warum hast Du mich verlassen, und: in Deine Hände befehle ich meinen Geist?“
Es entstand eine Pause, in der Orélie, Jurik und Marwin bemerkten, dass sie ihr Picknick längst beendet hatten, sie räumten die Reste zusammen und brachen auf.

Mittwoch, 7. März 2012

Innerweltliche Zukunftsutopien

SartreMarx

Marwin und Orélie hatten sich in einem Café eingefunden, und zwei Espressos wie auch zwei mit Wasser gefüllte Gläser standen vor ihnen. „Du weißt ja, dass Albert Camus und Karl Rahner innerweltliche Zukunftsutopien ablehnten,” begann Orélie mit dem Gespräch.

„Ja,” antwortete Marwin, „so schreibt Karl Rahner: „Für das Christentum ist alles nur verständlich von dem Ausständigen her.” „Und er nennt das Christentum „eine Religion der absoluten Zukunft, die ankünftig ist und keine innerweltliche Zukunftsutopie in sich trägt.”
„Hierbei ist wichtig”, erklärte Orélie, „dass die absolute Zukunft kein Gegenstand kategorialer Benennung ist. Rahner schreibt: „Dass dieses Ganze der absoluten Zukunft nicht eigentlich Gegenstand kategorialer Benennung, nicht Gegenstand der technischen Manipulierung werden kann, sondern das unsagbare Geheimnis bleibt, das aller Einzelerkenntnis und je einzelnen Tat an der Welt vorausliegt und diese überbietet, ergibt sich aus dem Wesen des Ganzen der absoluten Zukunft selbst. Denn die absolute Zukunft kann von ihrem Begriff her nicht als die durch endliches Einzelmaterial und kategoriale Zusammensetzung herstellbare sein. Sie kann aber auch als Woraufhin und Ermächtigung der Dynamik der Zukunftsbewegung der Welt und des Menschen, als tragende Hoffnung nicht bloss das nur leere Mögliche als das Noch-nicht-Wirkliche sein. Sie muss die absolute Fülle der Wirklichkeit sein als der tragende Grund der Zukunftsdynamik. Diese so verstandene absolute Zukunft aber nennen wir eben gerade Gott.”
„Und so schreibt Rahner auch, „dass nämlich die Welt eine absolute Zukunft, und zwar wirklich als heile besitzt, dass ihr Werden erst in der Absolutheit Gottes selbst ihr Ziel hat, so ist es berechtigt, wenn wir sagen, das Christentum sei die Religion der absoluten Zukunft.”
„Doch lässt Karl Rahner auch den Menschen nicht außer Acht”, merkte Marwin an, denn Rahner schreibt, dass der Mensch die Unendlichkeit erfahren könne, indem „das unsagbare Geheimnis, das wir Gott nennen, nicht nur der immer ferne bleibende Horizont unserer Transzendenzerfahrungen, unserer Endlichkeitserlebnisse bleibe, sondern dass die Unendlichkeit als solche in das Herz des Menschen fallen könne. Und dadurch, dass diese Ankunft Gottes selbst die wahre und einzig unendliche Zukunft des Menschen ist, hat das Christentum alle innerweltlichen Zukunftsideologien und –utopien immer schon unendlich überholt.”

„Nun sollen wir zu Albert Camus kommen”, sagte Orélie, „der von einem dem Menschen und allen anderen Menschen gemeinsamen Wert ausgeht. In seiner Essaysammlung Der Mensch in der Revolte schreibt er: „Das Individuum handelt also im Namen eines noch ungeklärten Wertes, von dem es jedoch zum mindesten fühlt, dass er ihm und allen anderen Menschen gemeinsam ist. Man sieht, dass die jedem Aufstand innewohnende Bejahung sich auf das erstreckt, was den Einzelnen insofern übersteigt, als es ihn aus seiner angeblichen Einsamkeit zieht und ihm einen Grund zum Handeln gibt. Doch ist es wichtig, jetzt schon zu bemerken, dass dieser Wert, der vor jeder Handlung vorausbesteht, den rein historischen Philosophien widerspricht, nach welchen ein Wert (wenn er sich überhaupt gewinnen lässt) erst am Ende einer Handlung gewonnen wird.”
„So lehnte Camus eine Logik der Geschichte ab. Er schreibt:„Sobald die Logik der Geschichte völlig hingenommen wird, führt sie entgegen ihrer höchsten Leidenschaft nach und nach dazu, den Menschzen zusehends zu verstümmeln und sich selbst in objektives Verbrechen zu verwandeln. Der Kommunismus strebt in seinem tiefsten Prinzip danach, alle Menschen zu befreien, indem er sie alle vorübergehend knechtet.” „Und daher ist für Camus der wahre Revolutionär der Revoltierende. Camus schreibt:„Der Revolutionär ist zu gleicher Zeit ein Revoltierender, oder er ist nicht mehr Revolutionär, sondern Polizist und Beamter, der sich gegen die Revolte wendet. Aber wenn er ein Revoltierender ist, wird er sich schließlich gegen die Revolution erheben. Derart, dass es von einer Haltung zur anderen keinen Fortschritt gibt, sondern nur Gleichzeitigkeit und unausgesetzt wachsenden Widerspruch.” „Und in einer Antwort aus dem Jahr 1947 an Emmanuel d'Astier de La Vigerie schreibt Camus: „Meine Rolle, ich kenne es an, ist es nicht, die Welt, noch den Menschen zu ändern. Ich bin dafür nicht tugendhaft, noch erleuchtet genug. Aber sie besteht vielleicht darin, an meinem Platz einigen Werten zu dienen, ohne die eine Welt, sogar verändert, es nicht wert ist, gelebt zu werden, ohne die, ein Mensch, sogar ein neuer, es nicht wert sein wird, geachtet zu werden. Es gibt eine Geschichte, und es gibt etwas anderes, das einfache Glück, die Leidenschaft der Menschen, die natürliche Schönheit. Dies sind zugleich Wurzeln, die von der Geschichte ignoriert werden, und da Europa sie verloren hat, ist es heute eine Wüste.”
„So lehnte Albert Camus auch jede innerweltliche Zukunftsutopie ab”, sagte Marwin darauf, „denn der Revoltierende verteidigt einen von Außen nicht antastbaren Wert, der im Menschen zu verteidigen ist. Camus schreibt: „In unserer täglichen Erfahrung spielt die Revolte die gleiche Rolle wie das cogito auf dem Gebiet des Denkens: sie ist die erste Selbstverständlichkeit. Aber diese Selbstverständlichkeit entreißt den einzelnen seiner Einsamkeit. Sie ist ein Gemeinplatz, die den ersten Wert auf allen Menschen gründet. Ich empöre mich, also sind wir. Der Revoltierende kämpft für die Unversehrtheit eines Teils seines Wesens. Er sucht zuvörderst nicht, etwas zu erobern, sondern etwas durchzusetzen.” „Daher kritisierte Albert Camus die Revolution”, fuhr Orélie fort, „da in ihr dieser Wert geleugnet und aus dem Menschen eine Geschichtskraft gemacht wird. Camus schreibt: „Die absolute Revolution setzte tatsächlich die absolute Formbarkeit der menschlichen Natur voraus, ihre mögliche Rückbildung auf den Stand einer Geschichtskraft. Aber die Revolte ist die Weigerung des Menschen, als Ding behandelt und auf die bloße Geschichte zurückgeführt zu werden. Sie ist die Bekräftigung einer allen Menschen gemeinsamen Natur, die sich der Welt der Macht entzieht.” „Die Revolte steht im Kontrast zur Revolution, die innerweltliche Zukunftsutopien impliziert”, machte Marwin deutlich,„Camus schreibt: „Die ehrlose Revolution, die Revolution der Berechnung, die, indem sie einen abstrakten Menschen demjenigen von Fleisch und Blut vorzieht, das Sein verleugnet, sooft es nötig ist, stellt genau an die Stelle der Liebe das Ressentiment.” „Da in der Revolution, wie Camus schreibt, „ der Mensch nichts ist, wenn er nicht durch die Geschichte, freiwillig oder gezwungen, die einmütige Zustimmung erhält. Genau an diesem Punkt ist die Grenze überschritten, die Revolte zuerst verraten und dann logischerweise erstickt. Aber die Bejahung einer Grenze, einer Würde und einer den Menschen gemeinsame Schönheit zieht nur die Notwendigkeit nach sich, diesen Wert auf alle und alles auszudehnen und auf die Einheit zuzugehen, ohne die Ursprünge zu verleugnen. In diesem Sinn rechtfertigt die Revolte in ihrer ursprünglichen Echtheit kein rein geschichtliches Denken. Die Forderung der Revolte ist die Einheit, die Forderung der geschichtlichen Revolution die Totalität.”
„Für Albert Camus ist eine ethische Rechtfertigung der Gerechtigkeit entscheidend”, hob Orélie hervor, „und so schreibt er: „Die Forderung nach Gerechtigkeit führt am Schluss zur Ungerechtigkeit, wenn sie nicht zuvor durch eine ethische Rechtfertigung der Gerechtigkeit begründet wird. Ohne das wird das Verbrechen eines Tages auch zur Pflicht. Wenn das Böse und das Gute wieder in die Zeit eingegliedert und mit den Ereignissen verschmolzen werden, ist nichts mehr gut oder böse, sondern nur verfrüht oder veraltet. Wer entscheidet über die Opportunität, wenn nicht der Opportunist? Später, sagen die Schüler, werdet ihr richten. Aber die Opfer sind nicht mehr da, um zu richten. Für das Opfer ist die Gegenwart der einzige Wert.”
„Und Karl Rahner wies im Namen des Christentums ebenso jede Zukunftsplanung zurück, bei der die Versuchung besteht „sie mit solcher Gewalt zu betreiben, dass jede Generation brutal zugunsten der nächsten und so fort geopfert wird, und so die Zukunft zum Moloch wird, vor dem der reale Mensch für den nie wirklichen, immer ausständigen geschlachtet wird.” „Und die von Albert Camus verlangte ethische Rechtfertigung der Gerechtigkeit findet bei Rahner durch die absolute Zukunft jedes Menschen ihre Begründung”, gab Marwin zu verstehen, „Rahner schreibt: „Insofern im Christentum durch die absolute Zukunft jedes Menschen allein die Begründung des absoluten Wertes jedes Menschen gegeben ist, ist durch es eine Überzeugung gegeben, die auch in der innerweltlichen Zukunftssorge in der Erzielung einer möglichst vollkommenen Gesellschaftsordnung ihre festeste und tiefste Begründung verleiht.”
„Albert Camus verteidigte in der Revolte einen dem Menschen inne wohnenden absoluten Wert”, antwortete Orélie,„doch suchte er die Begründung dafür in der Revolte selbst. Camus schreibt: „Doch halten wir das eine fest vor allem: die Grundlage dieses Wertes ist die Revolte selbst. Die Solidarität der Menschen gründet in der Bewegung der Revolte, und sie findet ihrerseits die Rechtfertigung nur in dieser Komplicenschaft.”„ Karl Rahner hätte diesen Standpunkt anerkannt, denn er schreibt zu dem Christentum: „Es selbst ist ja die gesellschaftlich organisierte Gemeinschaft des freien Glaubens an die absolute Zukunft, eines Glaubens also, der notwendig auf der individuellen Entscheidung des einzelnen beruht.”
„Und es gehörte zu Rahners Grundeinstellung, die anderen Religionen und Kulturen anzuerkennen und zu schätzen. Er schreibt, dass in der geschichtlichen und gesellschaftlichen Einheit der einen Menschheit der Weg des Christentums derjenige ist, in Freiheit in einer weltlichen Gesellschaft zu leben, die selber religiös pluralistisch sein will.” „Karl Rahner stellte auch die Frage”, fuhr Marwin fort „ob christliche und nicht-christliche Humanisten Feinde sein müssen, weil vielleicht die konkrete Zukunft, die jene planen, der widerspricht, die der Christ erbauen will?" Und Rahner antwortete darauf: „Aber das Christentum als Christentum fordert gar keine bestimmte konkrete Zukunft, und der Nicht-Christ wird hoffentlich auch nicht meinen, dass er sie schon als fertigen Fünf-Jahres-Plan in der Tasche hat. Warum sollten beide also nicht zusammen die Zukunft planen, die beiden unbekannt ist. Warum das Geahnte an ihr: Gerechtigkeit, Freiheit, Würde, Einheit und Differenziertheit der Gesellschaft, nicht gemeinsam sich deutlicher machen?”
„Hierin stimmten Karl Rahner und Albert Camus miteinander überein”, sagte Orélie und fuhr fort, „du weisst ja, dass sich nach der Veröffentlichung von Albert Camus' Essaysammlung Der Mensch in der Revolte im Jahr 1951 ein heftiger Streit zwischen Camus und seinem langjährigen Freund Jean Paul Sartre entfachte, da Sartre einen marxistisch geprägten Standpunkt vertrat, woraufhin die beiden sich entzweiten und verschiedene Wege gingen. Die Geschichte hat Albert Camus und seiner hellsichtigen Kritik an einem sozialistischen Gesellschaftssystem recht gegeben. Camus war nach dem Zweiten Weltkrieg bei dem Gründungstreffen des Conseil de Solidarité anwesend gewesen, an dem auch Abbé Pierre teilnahm. Die dort versammelten Personen sahen in einer weltbürgerlichen Einigkeit in der Verschiedenheit den wesentlichen Auftrag für die Zukunft.”

„Und Karl Rahner”, erklärte Marwin, „gehörte der Internationalen Paulusgesellschaft an, die 1955 gegründet wurde und eine Verständigung zwischen Christen und Marxisten anstrebte. Ihrem Namen liegt ein Satz des Apostels Paulus zugrunde: Zur Freiheit hat euch Christus befreit. In der Zeit des „Kalten Krieges” rief die Paulusgesellschaft zu einer friedvollen Verständigung zwischen Ost und West auf. Karl Rahner befürwortete in Gesprächen mit seinen kommunistischen Freunden

„jede sachlich sinnvolle innerweltliche Zukunftsplanung, wie die möglichste Befreiung des Menschen von der Herrschaft der Natur als auch die fortschreitende Sozialisierung des Menschen zur Erreichung eines möglichst großen Freiheitsraums.”

„Wir können festhalten”, brachte Orélie zum Ausdruck, „dass Albert Camus und Karl Rahner jede innerweltliche Zukunftsutopie ablehnten und für einen Dialog plädierten, der Respekt, Verantwortung und Toleranz erforderlich macht.”

Sonntag, 22. Januar 2012

Intellektuelle Redlichkeit

Christa Duris Karl Rahner Albert Camus
Jurik und Orélie hatten sich auf einer Bank im Stadtpark niedergelassen und begannen von einem Vortrag zu sprechen, den Karl Rahner auf Einladung der katholischen und evangelischen Studentengemeinde der Universität Wien am 14. März 1966 gehalten hat und in dem er sagte, dass der Mensch gar nicht anders kann, als Entscheidungen zu treffen. „In diesem Vortrag gab Rahner zu verstehen, was er unter intellektueller Redlichkeit auch im Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit verstand”, begann Jurik das Gespräch, „und er zeigte auf, dass der Mensch dem Fällen von Entscheidungen gar nicht ausweichen kann. Er sagte: „Intellektuelle Redlichkeit ist nicht dort vorhanden, wo man der Last der geistigen Entscheidung ledig wird oder besser: ledig zu werden glaubt. Es besteht die große Versuchung zu meinen; derjenige sei der intellektuell Redliche, der der skeptisch Reservierte ist, der sich nicht engagiert, keine absolute Entscheidung trifft, zwar alles prüft, aber nichts behält, der dem Irrtum auszuweichen sucht, indem er sich auf nichts endgültig einlässt.”
Orélie fügte hinzu: „Und so sagte Karl Rahner in diesem Vortrag, dessen voller Titel Intellektuelle Redlichkeit und christlicher Glaube lautet und der veröffentlicht wurde: „Intellektuelle Redlichkeit gebietet den Mut zur geistigen Entscheidung, auch wenn diese belastet ist mit all der Unsicherheit, Dunkelheit und Gefahr, die nun einmal mit der geistigen Entscheidung eines endlichen, geschichtlich bedingten Geistes verbunden ist, der um diese seine Bedingtheiten weiß und doch entscheiden muss. Überdies gelingt es gar nicht sich in einer Dimension zu halten, die vor der Entscheidung liegt. Der Versuch, neutral zu bleiben, ist also faktisch nur die Weigerung, zu den Entscheidungen reflex zu stehen, die im tathaften Vollzug des Lebens eben doch fallen, indem mindestens die Entscheidung darüber getan wird, ob man das Leben als absurd oder von einem unsagbar geheimnisvollen Sinn erfüllt sieht.”
„Ja”, antwortete Jurik, „und Albert Camus machte sich zum Fürsprecher des absurden Menschen, dem er weder Mut noch Urteilskraft abspricht und hierzu schreibt: „Ersterer lehrt ihn, ohne Widerruf zu leben und sich mit dem zu begnügen, was er hat; letztere unterrichtet ihn über seine Grenzen.”
„So schreibt Camus auch: „Das Absurde ist die hellsichtige Vernunft, die ihre Grenzen feststellt.
Trotzdem blieb Albert Camus bescheiden, denn er schreibt gleichzeitig: „Ich will wissen, ob ich mit dem, was ich weiß, und nur damit leben kann.”
„Hierzu können wir Karl Rahner aus seinem Vortrag zitieren”, antwortete Orélie, „denn in diesem sprach Rahner von einer einsehbaren existentialen Differenz, weil das geistige Dasein des Menschen grundsätzlich, immer und unausweichlich so gebaut ist, dass eine einsehbare existentiale Differenz obwaltet zwischen dem in der Tat des Lebens Implizierten und dem wissenschaftlich Reflektierten.Der Mensch kann sein Dasein gar nicht ausschließlich erbauen allein aus Elementen, die er in wissenschaftlicher Reflexion sich zu eigen gemacht hat, die er auf diese Weise geprüft hat. Und weil er die Unaufhebbarkeit dieser Differenz rational begreift, weil er weiß, dass die Tat des Lebens nicht die bloße Konsequenz reflexer Rationalität sein kann, darum ist er auch vor seinem Wahrheitsgewissen, also in „intellektueller Redlichkeit”, legitimiert und durch es verpflichtet, diese Differenz anzunehmen.” „Und Rahner veranschaulichte das von ihm Dargelegte an einem konkreten Beispiel und sagte: „Ich habe das eingesehene Recht und die Pflicht, eine politische Entscheidung zu treffen, eventuell auf der einen Barrikade, statt auf der anderen zu kämpfen, obwohl ich keine theoretische Sicherheit für die sachliche Richtigkeit meiner Entscheidung habe, die mir auch die raffiniertesten Computer, mit denen man heute selbst in solchen Fragen zu arbeiten sucht, nicht ersparen können.”
„Ja,” antwortete Jurik, „und hier hätten Albert Camus und Karl Rahner miteinander übereinstimmen können, weil sich Camus der Schwere der Entscheidungssituation bewusst war. Und Karl Rahner sprach in seinem Vortrag ja von Menschen, die wie Albert Camus diesen Mut zur Wahrheitsentscheidung aufbrachten. Rahner sagte: „Wenn man fragt, wie denn der Mensch sich diese gräßliche Situation der Entscheidungsnotwendigkeit innerhalb der genannten existentialen Differenz könne zumuten lassen, so ist nüchtern zu sagen: sie ist ihm zugemutet, und der Protest dagegen geschieht nochmals in dieser Situation und tritt nicht aus ihr heraus. Die sich so gehorsam und redlich Entscheidenden sind selbst bei gegensätzlichen Entscheidungen immer noch brüderlich untereinander näher in der Treue zu ihrem Gewissen und in dem Mut zur Wahrheitsentscheidung, als dem gegenüber, der skeptische Abstinenzpolitik auf dem Feld der Wahrheit zu betreiben sucht. Das gilt gerade dann, wenn sie beide um die dunkel-bittere Last jeder solchen Entscheidung wissen.”
„Und um diese Last wussten Albert Camus und Karl Rahner. In seinem Vortrag ging Rahner daraufhin auf die bestehende existentiale Differenz hinsichtlich des Verhältnisses zwischen intellektueller Redlichkeit und christlichem Glauben ein”, sagte Orélie darauf, „Karl Rahner sagte: „Der Glaube hat es ja mit der umfassenden Deutung des Daseins überhaupt zu tun, und der christliche Glaube macht Aussagen über alle Dimensionen des menschlichen Daseins. In diesem Fall aber ist jene existentiale Differenz zwischen dem Gemeinten und seiner Begründung einerseits und dem theoretisch-wissenschaftlich Reflektierten andererseits notwendig und unausweichlich am größten. Der Glaubende und intellektuell Redliche weiß das, darf es wissen, es anerkennen und braucht vor dieser Tatsache nicht zu erschrecken.”„Und so sagte Rahner: „Der Glaube als solcher, als Tat des geistigen Lebens, in der der letzte Daseinssinn als Wort Gottes an uns umfasst wird, hat jene freie Absolutheit und Unbedingtheit, die ihm – soll er selbst sein – zukommen müssen. Aber dazu braucht er außer dem Wort Gottes und seiner Gnade eben nicht die adäquate theoretische Eingeholtheit aller seiner Implikationen und Voraussetzungen. Er ist zunächst einfach schon als gegeben oder als real andrängende Möglichkeit da. Und als solcher rechtfertigt er sich zunächst genügend durch das, was er mitbringt: Er ist eine Tatsache des Lebens, der man sich durchaus rational berechtigt unbefangen anvertraut, solange das Gegenteil nicht gewiss geworden ist, weil man dem Leben die Chance geben muss, sich zu rechtfertigen, was es eben nur kann, wenn es vertrauensvoll gelebt wird.”
„Hier wird auch der Unterschied zwischen Albert Camus und Karl Rahner offenkundig”, gab Orélie zu verstehen, „während Rahner davon spricht, sich rational berechtigt dem unsagbaren Geheimnis unbefangen anzuvertrauen, will Camus mit seinem Verstand Gott begreifen. Aber er ist dabei nicht anmaßend, denn er schreibt: „Ich weiß nicht, ob diese Welt einen Sinn hat, der über sie hinausgeht. Aber ich weiß, dass ich diesen Sinn nicht kenne. Was bedeutet mir ein Sinn, der außerhalb meiner conditio liegt? Ich kann nur auf menschliche Weise etwas begreifen. Was ich für wahr halte, daran muss ich festhalten. Was mir so evident erscheint, auch gegen mich selbst, muss ich aufrechterhalten.”
„Albert Camus fand nicht zu dem Glauben an Gott, weil er sich Gott mit seinem Verstand nicht begreifbar machen konnte, was ihn dazu führte das Absurde die Sünde ohne Gott zu nennen. Hierbei ging er von der Verzweiflung aus, die er selber kannte, und er berief sich auf Sören Kierkegaard. Camus schreibt: Beispielsweise gibt es nichts Tieferes als Kierkegaards Ansicht, dass die Verzweiflung keine Tatsache, sondern ein Zustand sei: der Zustand der Sünde. Denn die Sünde ist das, was von Gott entfernt. Das Absurde, der metaphysische Zustand des bewussten Menschen, führt nicht zu Gott. Ich habe nicht gesagt, „schließt Gott aus”, was immer noch bestätigen hieße. Vielleicht wird dieser Begriff klarer, wenn ich das Ungeheuerliche auszusprechen wage: das Absurde ist die Sünde ohne Gott?”
„Karl Rahner gab klar zu verstehen”, sagte Jurik darauf, „dass der Mensch „Gott” nicht in sein verstandesmäßiges Kalkül einbauen kann. Rahner schreibt: „Das Christentum ist nicht die Religion, die „Gott” in das Kalkül des menschlichen Daseins einsetzt als einen bekannten, verfügbaren Posten, damit die Rechnung aufgehe. Es ist vielmehr die Religion, die den Menschen in die Unbegreiflichkeit einsetzt, die sein Dasein umfasst und durchdringt, die ihn hindert, in einer Ideologie zu meinen, es gäbe eine durchschaubare Grundformel des Daseins, die man selbst manipulieren und von der aus man das Dasein konstruieren könnte. Das Christentum ist das radikale Nein zu allen solchen „Götzen”. Es will, dass der Mensch ohne Verdrängung und ohne Hybris der Bemächtigung zu tun habe mit Gott als dem unaussagbaren Geheimnis. Es weiß, dass man von Gott nur weiß, wenn man verstummend und anbetend dieses Geheimnis erfährt. Seine religiöse Rede ist immer nur und nur wahr als letztes Wort, das das Verstummen vor dem Geheimnis einleitet, damit es da bleibe und nicht durch den Begriff von Gott ersetzt werde. Aber das Christentum weiß, dass dieses Geheimnis als die wirklichste Wirklichkeit und die Wahrheit der Wahrheiten sein Dasein durchdringt.”
„Und hier darf die Gnade nicht vergessen werden”, erklärte Jurik, „und Rahner sagte in seinem Vortrag, „Das Geheimnis, das wir Gott nennen, gibt sich selbst in seinem göttlichen Leben in wirklicher Selbstmitteilung zu eigen. Er selbst ist die Gnade unseres Daseins. Das Christentum ist das ausdrückliche und gesellschaftlich verfasste Bekenntnis dazu, dass das absolute Geheimnis, das in und über unserem Dasein unausweichlich waltet und Gott genannt wird, als vergebend und vergöttlichend sich uns in der Geschichte des freien Geistes mitteilt und dass diese Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus geschichtlich und irreversibel siegreich in Erscheinung tritt.”
„Dagegen schreibt Albert Camus,” fuhr Jurik fort, „dass das Absurde die einzige Grundwahrheit ist, und der Mensch mit dieser Wahrheit zurechtkommen muss. „In diesem Zustand des Absurden muss man leben. Ich weiß, worauf er gegründet ist – dieser Geist und diese Welt, die sich gegenseitig abstützen und sich nicht umfassen können. Ich frage nach der Lebensregel für diesen Zustand, was man mir jedoch anbietet, lässt seine Grundlage außer acht, verneint das eine Glied des schmerzlichen Gegensatzes und befiehlt mir aufzugeben. Ich frage, was die conditio, die ich als die meine erkenne, nach sich zieht; ich weiß, dass sie Dunkel und Unwissenheit impliziert, und man versichert mir, diese Unwissenheit erkläre alles, und diese Nacht sei mein Licht. Man gibt mir aber keine mir entsprechende Antwort, und diese mitreißende Begeisterung kann mir das Paradox nicht verbergen.”
„Und Karl Rahner,” äußerte Orélie, „sagte am Ende seines Vortrags: „Ich meine: wenn man aus „intellektueller Redlichkeit” keinen Götzen macht, wenn man nicht meint, der Skeptiker sei davor am ehesten bewahrt, Irrtum für Wahrheit zu halten, wenn man nicht meint, man könne eine theoretische Epoche auch in die Tat des Lebens hinein fortführen, dann verbietet die intellektuelle Redlichkeit gewiss nicht zu glauben, an die Wirklichkeit sein Leben zu wagen, die das Christentum hat und bekennt. Man ist dann durch diese hohe Tugend dazu nicht gezwungen, aber man ist auch durch sie ermächtigt. Denn auch sie gewinnt ihren letzten und einzigen Sinn nur, wenn sie sich vollendet im Mut über aller bloßen intellektuellen Vorsicht zum Geheimnis des Daseins und zur Liebe.”

Samstag, 10. Dezember 2011

Die Schuld

Der_Schrei
Marwin und Orélie saßen am Fenster eines Cafés an einem kleinen runden Tisch und kamen alsbald auf die Schuld zu sprechen, weil Orélie mal wieder Albert Camus' Roman Der Fall gelesen hatte.
„In diesem Roman wird sich der Erzähler Jean-Baptiste Clamence, ein ehemals erfolgreicher Anwalt aus Paris, seiner unterlassenen Hilfeleistung auf dem Pont Royal und somit seiner Schuld bewusst. In einer Nacht im November erblickte er beim Überqueren dieser Brücke eine junge Frau, die sich über das Geländer beugte und einige Augenblicke später vernahm er das Aufklatschen ihres Körpers auf das Wasser der Seine. Doch eilte er ihr nicht zu Hilfe, obwohl er wiederholt einen Schrei vernahm, der plötzlich verstummte. Aber von diesem Zeitpunkt an erhebt er gegen sich selbst Anklage”, begann Orélie das Gespräch. „Ja”, antwortete Marwin, „bis dahin verteidigte er die Angeklagten mit seiner ganzen Hingabe und allen ihm gegebenen Mitteln. Und er fühlte sich über den Parteien stehend und jeder Schuld enthoben. In einer Amsterdamer Kneipe führt er mit einem dort anwesenden Besucher eine Art Selbstgespräch, bei dem er sich als Bußrichter bezeichnet. Und zu seinem zuvor geführten Leben sagt er: „Die Richter straften, die Angeklagten sühnten, und ich, jeder Verpflichtung ledig, vom Urteil und seiner Vollziehung gleichermaßen unberührt, herrschte frei in paradiesischem Licht.”„ Außerdem genoss er sein Leben, indem er von einem Fest und Trubel zum anderen eilte. „So jagte ich dahin, immer erfolgreich, immer unersättlich, ohne zu wissen, wo ich innehalten sollte, bis zu dem Tag, bis zu dem Abend vielmehr, da die Musik abbrach, die Lichter erloschen. Das Fest, auf dem ich glücklich gewesen war…”
„Nach der nicht geleisteten Hilfe erträgt Clamence sein Leben nur schwer. „Eine Zeitlang ging es aufwärts, dann wieder bergab. Ich trug schwerer am Leben: freudloser Körper, freudloses Gemüt. Mir schien, ich verlerne teilweise, was ich gelernt hatte und doch so gut konnte, nämlich leben.” „Außerdem erkennt er die Zwiespältigkeit seines bisherigen Verhaltens”, unterstrich Orélie. „Zumindest merkte ich, dass ich einzig und allein so lange auf Seiten der Schuldigen, der Angeklagten, stand, als ihr Vergehen mir nicht zum Nachteil gereichte. Ihre Schuld verlieh mir Beredsamkeit, weil nicht ich ihr Opfer war. Fand ich mich selbst bedroht, so wurde ich nicht nur meinerseits zum Richter, sondern darüber hinaus zum jähzornigen Gebieter, der ohne Ansehen der Gesetze danach verlangte, den Delinquenten niederzuschlagen und in die Knie zu zwingen. Nach einer solchen Feststellung, Verehrtester, ist es recht schwierig, weiterhin ernsthaft zu glauben, man sei zur Gerechtigkeit berufen, zur Verteidigung der Witwen und Waisen prädestiniert.”
„Ja”, sagte Marwin darauf, „ Albert Camus lässt Clamence sagen: „So ist der Mensch, er hat zwei Gesichter: Er kann nicht lieben, ohne sich selbst zu lieben.” Und Karl Rahner schreibt ebenso: „Wir haben uns im Leben mit unserer Umgebung zu einer Koexistenz arrangiert, weil so unser Egoismus noch die besten Chancen hat, einigermaßen durchzukommen.” „Das Leben des Menschen auf Erden ist für Rahner „Erprobung und Anfechtung. Das ist die Lebenssituation, über die keine Klage und kein Bedauern hinweghilft, die einfach gesehen und angenommen und – bestanden werden muss.”
Und in seiner Schrift„Den Entscheidungen nicht ausweichen!” schreibt er: „Es ist nämlich nicht so, dass der endliche Mensch alles aus einem einzigen Prinzip ableiten könnte, was er zu tun und zu verwirklichen hat. Er hat unüberwindlich eine Vielzahl von Prinzipien. Ihre gleichzeitige Respektierung ist nur durch Entscheidung möglich, und dafür bedarf es der Imperative.” „Nach dem Vorfall auf der Brücke versucht Clamence, den Entscheidungen zu entfliehen”, gab Orélie zu verstehen, „denn er sagt: „Ich gehe nachts nie über eine Brücke. Ein Gelübde. Stellen Sie sich doch einmal vor, es stürze sich einer ins Wasser. Dann stehen Ihnen zwei Möglichkeiten offen: Entweder Sie springen nach, um ihn herauszufischen, was in der kalten Jahreszeit die denkbar schlimmsten Folgen für Sie haben kann! Oder aber Sie überlassen ihn seinem Schicksal, doch nach unterbliebenen Kopfsprüngen fühlt man sich manchmal seltsam zerschlagen.”
„Doch macht Albert Camus genauso wie Karl Rahner deutlich, dass der Mensch gar nicht anders kann, als Entscheidungen zu treffen. Und so hört Clamence einige Zeit später beim Überqueren des Pont des Arts hinter sich ein Lachen, das er noch vernimmt, als es längst wieder verklungen ist. Clamence sagt: „Es kam aus dem Nichts oder vielleicht aus dem Wasser. Gleichzeitig wurde mir das heftige Klopfen meines Herzens bewusst. Verstehen Sie mich recht: Das Lachen hatte nichts Geheimnisvolles an sich; es war ein herzliches, natürliches, beinahe freundschaftliches Lachen, das alle Dinge an ihren Platz rückte. ” „ Durch das Lachen sieht er sich wieder der Frage nach seiner Schuld ausgesetzt, denn es ruft ihm die Frau auf dem Pont Royal und seine unterlassene Hilfeleistung ins Gedächtnis zurück. Er geht nach Hause und hört plötzlich im Freien ein Lachen, woraufhin er aus dem Fenster schaut. Auf der Straße erblickt er ein paar junge Burschen, die sich voller Fröhlichkeit voneinander verabschieden. Er geht ins Badezimmer und betrachtet sich im Spiegel: „Mein Bild lächelte im Spiegel, aber mir schien, mein Lächeln sei doppelt…”
„Ein anderes Beispiel kommt mir in den Sinn”, fuhr Marwin fort, „das zeigt, dass Clamence sich nicht um die Entscheidung herumdrücken kann, und diese im Zusammenhang mit der Schuld steht. Gemeinsam mit einer Freundin unternimmt er eine Reise an Bord eines Ozeandampfers. Bei einem Spaziergang auf dem Deck des Schiffs entdeckt er in der Ferne einen dunklen Punkt, der sofort die Gestalt auf dem Pont Royal in ihm wach werden lässt. Es stellt sich heraus, dass es sich um Abfälle handelt, aber für ihn ist es wieder das Drama seines Lebens. „Ich wollte eben zu schreien beginnen, sinnlos um Hilfe rufen. Da merkte ich – ohne mich aufzulehnen, wie man sich mit einem Gedanken abfindet, dessen Wahrheit man seit langem erkannt hat – ,dass jener Schrei, der Jahre zuvor in meinem Rücken auf der Seine ertönte, aus dem Fluss in den Ärmelkanal getrieben war und nicht aufgehört hatte, über die unermessliche Weite der Meere hinweg durch die Welt zu geistern, dass er auf mich gewartet hatte bis zum Tag, da ich ihm wieder begegnen würde. Ich wusste auch, dass er weiterhin auf Meeren und Strömen auf mich warten würde, überall dort, wo sich das bittere Wasser meiner Taufe fand. Sind wir nicht auch hier noch auf dem Wasser, auf dem flachen, einförmigen, endlosen Wasser, dessen Grenzen mit denen der Erde verfließen?"
„Da er der Schuld nicht entkommen kann, sucht Clamence nach verschiedenen Auswegen, um mit ihr leben zu können”, ließ Orélie wissen, „und so will er sich auch zu Gott machen. „Dann wachse ich, mein Lieber, wachse ins Unermessliche, dann atme ich frei, ich stehe auf dem Gipfel des Berges, und zu meinen Füßen breitet sich die Ebene. Wie berauschend ist es doch, sich als Gott-Vater zu fühlen und unwiderrufliche Zeugnisse über schlechten Lebenswandel auszuteilen. Von meinen wüsten Engeln umgeben, throne ich am höchsten Punkt des holländischen Himmels und beobachte, wie die aus Nebeln und Wassern auftauchenden Scharen des Jüngsten Gerichts zu mir emporsteigen. Langsam, langsam erheben sie sich, gleich wird der Erste da sein. In seinem verstörten, von der einen Hand halbverborgenen Gesicht lese ich die Trostlosigkeit des gemeinsamen Loses und die Verzweiflung, ihm nicht entgehen zu können. Ich aber bemitleide, ohne loszusprechen, verstehe, ohne zu vergeben, und vor allen Dingen spüre ich endlich, dass man mich anbetet!” „Mit diesen Worten klagt Clamence gleichzeitig Gott an”, fuhr Orélie fort, „denn im Grunde möchte er die Schuld los sein. „Im Grunde möchten wir nicht mehr schuldig sein und gleichzeitig keine Anstrengung machen, um uns zu läutern. Wir sollten die Geduld aufbringen, das Jüngste Gericht abzuwarten. Aber eben, wir haben es eilig. ”
„ Clamence fragt sich auch”, gab Marwin zu verstehen, „ob er der Menschheit fluchen soll.” „Sollte ich mich wie so viele meiner illustren Zeitgenossen auf eine Kanzel hissen und der Menschheit fluchen? Ein höchst gefährliches Unterfangen! Eines Tages oder eines Nachts platzt aus heiterem Himmel das Lachen los. Der Urteilsspruch, den man über den anderen verhängt, fliegt einem zuletzt wie ein Bumerang geradewegs ins eigene Gesicht und richtet dort allerlei Verheerungen an.”
„Karl Rahner lehnt es ebenfalls ab, dass der Mensch das Böse zu „ einem allgemeinen Konstitutivum seines faktischen Wesens macht”, brachte Orélie zum Ausdruck, „wer das tut, schreibt Rahner, „der radikalisiert scheinbar die Sünde, er macht sie so allgemein, er setzt sie so früh, noch vor der in Wirklichkeit nach rückwärts unauflösbaren Tat des je einmaligen Ichs an, dass er sehr leicht allen befehlen kann: Bekennt euch als Sünder! Aber im Chor aller versteckt sich der einzelne, und, ob man will oder nicht, das Bekenntnis je meiner einmaligen Schuld verwandelt sich in einen lyrisch-allgemeinen, in Moll gehaltenen Klagegesang über die „Misere” des Menschen. So ist es aber in Wahrheit nicht. Es gibt so sehr „je-meinige” Schuld als Tat des einmal einzelnen. ”
„Für Karl Rahner ist es zuerst einmal wichtig, das Vergebungswort Gottes zu hören”, hob Marwin hervor, „und so schreibt Rahner: „Wo ist dieses Vergebungswort Gottes zu hören, das nicht nur Folge, sondern im letzten Grund Voraussetzung für die Umkehr ist, in der der schuldige Mensch glaubend, reuig vertrauend sich Gott zuwendet und übergibt? Dieses leise Vergebungswort kann in der Tiefe des Gewissens gehört werden, weil es ja schon als tragender Grund mitten in jener vertrauenden und liebenden Rückwendung des Menschen zu Gott innewohnt. Und dieses raumzeitlich konkret werdende Vergebungswort Gottes an die Menschheit hat ihren Höhepunkt und eine letzte geschichtliche Unwiderruflichkeit gefunden in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, in dem, der liebend sich solidarisierte mit den Sündern und für uns in der letzten Tat seines Glaubens, Hoffens und Liebens mitten in der Finsternis seines Todes, in dem er die Finsternis unserer Schuld erfuhr, das Vergebungswort Gottes für uns annahm.” Und Orélie fügte hinzu: „In Albert Camus' Tagebüchern habe ich gelesen: „In Christus geht der Tod zu Ende, der in Adam begann.”
Nach einer Weile kamen Orélie und Marwin wieder auf Clamence zurück, und sie waren sich einig, dass seine verschiedensten Versuche, seiner Schuld zu entkommen, scheitern. Er findet keine ideale Lösung und sagt: „Aber die gleichen Vögel kreischten, riefen schon auf dem Atlantik an dem Tag, da ich endgültig merkte, dass ich nicht geheilt war, dass ich immer noch festsaß und dass ich mich danach einrichten musste. Schluss mit dem glorreichen Leben, Schluss aber auch mit dem Toben und sich Aufbäumen! Ich musste mich unterwerfen und meine Schuldhaftigkeit eingestehen.” Clamence erkennt letztlich, dass er gegen die Schuld nicht ankommen kann und „ die Unschuld nur Gott verbürgen könnte .” Aber da er nicht an Gott glaubt, sagt er: „Wenn man sein eigenes Leben nicht liebt und weiß, dass man ein anderes anfangen muss, bleibt einem ja keine Wahl, nicht wahr? Was tun, um ein anderer zu werden? Unmöglich. Dann müsste man schon niemand mehr sein, sich für irgendjemand selbst vergessen, wenigstens ein einziges Mal. Aber wie? Tadeln Sie mich nicht zu hart. Ich gleiche jenem alten Bettler, der eines Tages in einem Café meine Hand nicht loslassen wollte. „Ach, wissen Sie, Monsieur”, sagte er, „man ist ja nicht eigentlich ein schlechter Mensch, aber man verliert das Licht.” So ist es, wir haben das Licht verloren, die Morgenröte, die heilige Unschuld dessen, der sich selbst vergibt.”
„Vom christlichen Verständnis der Schuld”, sagte Marwin, „kann der Mensch sich nicht selbst vergeben, und er würde etwas verlangen, was die Welt nicht geben kann. Karl Rahner schreibt: „Wir verlangen nach etwas und wissen nicht, was; aber wir sind sicher, es ist etwas, das die Welt nicht geben kann. Und wir müssen diesem unbekannten, ersehnten und geliebten Wesen nur den wahren Namen geben: Gott. So erwacht wie von selbst die Liebe zu Gott in unserer Seele, wie von selbst verlangt der Mensch nach dem Gott seines Herzens und auch seinem Anteil in Ewigkeit. Wie von selbst fängt er an, den zu suchen, der allein noch bleibt, wenn alles versinkt, den Einzigen, der ihn immer umgibt und liebt, den Gott der Sehnsucht unseres armen Herzens.”
„Doch ist für Karl Rahner”, machte Orélie deutlich, „ ein Christ in der falschen Position, wenn er fragt: „ Ach, Gott, wo ist dieses Werk Gottes und seiner machtvoll befreienden Gnade, die uns aus der Grube unseres bösen, ohnmächtig in sich selbst erstickten Herzens herausholt?” Denn wer so fragt, nimmt zweifelnd Abstand zu Gott und seiner Gnade. Man erfährt die Gnade nur, indem man von ihr nicht verlangt, dass sie sich uns zuerst vorstellt, indem man geht und nicht fragt, ob man gehen kann, springt, obwohl man nur in den Abgrund der eigenen Ohnmacht zu fallen wähnt.”
„Ja”, sagte Marwin, „der Mensch kann sich nicht zu seinem eigenen Schiedsrichter machen. Karl Rahner schreibt:„Der Mensch würde aufhören, ein Mensch dieser Erde zu sein, wollte er in der bittern Ungeduld, nie eigentlich zu wissen, nie aussprechbar, „schwarz auf weiß” zu wissen, was nun eigentlich an ihm ist, sich gleichsam noch umwenden, um der Tat seines Lebens zuzusehen, um auch noch den Schiedsrichter bei seinem „Lauf” zu machen, ob er rechten Zieles und schnell genug ist. Er kann nur laufen und vor lauter Laufen – weg von sich, zu Gott hin – vergessen, darüber nachzudenken, dass er läuft. Und weil nur der Laufende gerechtfertigt ist vor Gott und wir alle noch am Laufen sind und darum vergessen müssen, was hinter uns liegt, selbst wenn darin das Entscheidende schon erreicht war, darum ist das eigentliche Gebet, das wir Gott über uns zu sagen haben, nie: Ich bin in Deiner Gnade, sondern immer wieder: Erbarme Dich meiner, der ich ein Sünder bin.”
„Dieses Gebet enthält als Aufgabe für den Menschen, wie Rahner schreibt, „die Aufforderung zu humaner Anständigkeit, zu Güte, Geduld, Friedlichkeit, Gelöstheit des singenden Herzens und all dem anderen, ohne das der Alltag des Lebens in Ausweglosigkeit sich verfängt. Aber dieser sehr nüchterne Imperativ des Alltags kommt jetzt als Wort der Gnade.
„Und Albert Camus macht sich zum Fürsprecher der Revolte,” erklärte Orélie ,„denn im Gegensatz zu Clamence, der am Ende seines Monologs höhnisch sagt, dass es glücklicherweise immer zu spät sein wird, sich und das Mädchen zu retten, schreibt Camus: „Indem sie protestiert gegen das, was der Tod an Unvollendetem und das Böse an Zerrissenem ins Dasein bringen, ist die Revolte die begründete Forderung einer glücklichen Einheit gegen das Leid des Lebens und Sterbens. Wir müssen der Gerechtigkeit dienen, weil unser Wesen ungerecht ist, das Glück und die Freude fördern, weil diese Welt unglücklich ist. Gleichermaβen dürfen wir nicht zum Tode verurteilen, da man zum Tode Verurteilte aus uns gemacht hat.“
Marwin und Orélie hielten inne und schauten durch die Fensterscheibe dem Treiben der Menschen auf der Straße zu.

Dienstag, 11. Januar 2011

Das neue Jahr

9
Jurik und Orélie hatten sich zum Mittagessen in einer Gaststätte getroffen und an einem in einer abgeschiedenen Ecke des geräumigen Raums stehenden Tisch Platz genommen. Sie warteten auf das bestellte Essen, und ohne es geplant zu haben, kamen sie auf Albert Camus‘ Essay Zwischen Ja und Nein zu sprechen.

„Diese Schrift enthält schon grundlegende Inhalte, die Albert Camus in seinen literarischen und philosophischen Werken wieder aufgreift und weiterentwickelt. Der Erzähler erinnert sich zur Abendzeit in einem unauffälligen Café an seine Kindheit voller Armut, an seine fast immer schweigende Mutter, und trotz ihrer Gedrücktheit bergen diese Lebenserinnerungen Empfindungen von unbeschreiblichem Glück“, begann Jurik das Gespräch, „Camus schreibt:

„Wenn es wahr ist, dass es nur verlorene Paradiese gibt, weiβ ich, wie ich das irgendwie Zärtliche und Unmenschliche benennen muss, das mich heute erfüllt. Gemessen, friedvoll und ernst kehren jene Stunden zurück, unverändert eindrücklich, unverändert aufwühlend – weil es Abend ist, eine Stunde der Traurigkeit, und weil am lichtlosen Himmel eine unbestimmte Sehnsucht steht. Jede wiedergefundene Bewegung enthüllt mich mir selbst. Denn aus jenen Stunden, die ich aus der Tiefe des Vergessens in mir aufsteigen lasse, ist mir vor allem die unversehrte Erinnerung an eine reine Empfindung erhalten geblieben, an einen in der Zeitlosigkeit schwebenden Augenblick. Das ist die einzige Wahrheit, die ich besitze.“

„Die Freude und Wehmut, die uns überkommen, wenn wir an vergangene einmalige Begebenheiten denken, sind unvorstellbar“, antwortete Orélie, „so schreibt Albert Camus:

„Wir lieben die Eigenart einer Gebärde, das Eingefügtsein eines Baumes in die Landschaft. Und um all diese Liebe wieder aufleben zu lassen, steht uns bloβ eine Einzelheit zu Gebote, doch sie genügt: der Geruch eines zu lange verschlossenen Zimmers, der besondere Klang eines Schritts auf der Straβe. Nicht anders steht es mit mir. Und wenn ich mich damals liebend selbst hingab, so war ich doch endlich ich selbst, da uns allein die Liebe uns selbst zu schenken vermag.“

„Karl Rahner nannte in einer Meditation zu Neujahr solche gelebte Augenblicke und gemachte Erfahrungen „das Geheimnis der Ewigkeit in der Zeit, den Augenblick der Fülle der Zeit oder die Sternenstunden“, und solche Stunden haben gerade in ihrer Schlichtheit und Unscheinbarkeit ihr Gewicht. Karl Rahner schreibt:

„So kann es sein, dass die gröβere Stunde, die erfülltere Zeit gegeben ist, wo das Zeichen im weiteren Sinn dafür ärmer und zweideutiger ist. Es kann sein, dass irgendeiner in einem verzichtenden Schweigen, das keiner bemerkt, in einem scheinbar kleinen Opfer plötzlich durch alle Mauern durchbricht, hinter denen bisher sein angstvoller Egoismus sich verschanzt hatte, und ausbricht in die Weiten Gottes. Vielleicht merkt er selbst nicht viel davon, dass er etwas berichten könnte in seinem Tagebuch. Er ist nur plötzlich so weit geworden, es ist nur plötzlich etwas Namenloses, Geheimnisvolles schweigend da, wie farblos und unbeschreiblich. Aber es ist alles anders. Man kann dieses Anwesende nicht neben die andern Dinge halten, die sonst den Raum des Lebens wie eine Rumpelkammer ausfüllen, man kann es nicht mit ihnen vergleichen und mit ihnen in Übereinstimmung und Abhebung zusammenordnen. Man hat verlassen, man ist ausgewandert, hat losgelassen.“

„Wenn Karl Rahner von dem Geheimnis der Ewigkeit in der Zeit spricht“, erwiderte Jurik, „sieht er es von der Ewigkeit her, denn diese Stunden sind „das werdende Ewige, das vollendete Zeitliche, nicht etwas, was „danach“ – zeitlich – kommt, weil es ja sonst auch verginge.“

„Ich stimme dir bei“, sagte Orélie darauf, „und demgemäβ schreibt Karl Rahner in seiner Meditation zu Neujahr: „Ich interessiere mich dafür, was das neue Jahr bringt. Ich interessiere mich dafür mit dem ganzen Ernst der Ewigkeit. Was da kommt, geht ja nicht wieder fort. Es kommt, um zu bleiben. Es geschieht, um zu sein, nicht um zu vergehen. Es stürzt in die Leere der Zeit, um sie zu erfüllen. Es ist das Geheimnis der Ewigkeit in der Zeit. Ich kann gar nicht so ernst nehmen, was das neue Jahr bringt, wie es genommen werden müsste. Denn solange ich mit meinem Dasein durch die rinnende Zeit verrinne, meine ich immer, es sei darin nichts als dieses. Ich muss immer wieder aufwachen: es geschieht in mir das Ewige, jetzt, auf einmal und für immer, jetzt, wo ich meine, es sei nicht so wichtig, was da läuft und davonläuft.“
„Wir können daher auch von Gnadengaben sprechen. In seiner Meditation fragt Rahner: „Von woher kommt mir eine solche Stunde aus einer Zu - kunft entgegen?“ Und er gibt die Antwort: „In dem, was auf mich zukommt, muss ich sie finden. Darin muss ich auch die vergangenen suchen. Denn nur, wenn sie darin sind, bleiben sie mir, die mir Gott in seiner Gnade auch in der Vergangenheit möge geschenkt haben.“
„Im Gegensatz dazu“, sagte Jurik, „schreibt Albert Camus: „Während wir diesen Erinnerungen nachgehen, kleiden wir alles in dasselbe unauffällige Gewand, und der Tod erscheint uns wie ein Hintergrund mit verblichenen Farben. Wir verfolgen unsere eigene Spur zurück. Wir fühlen unsere Not, und sie lehrt uns, besser zu lieben. Ja, vielleicht ist das eben das Glück, dieses mitleidige Wissen um unser Unglück. Wenn ein gewisser Grad der Not erreicht ist, führt nicht mehr zu nichts mehr, weder Hoffnung noch Verzweiflung scheinen begründet und das ganze Leben erschöpft sich in einem Bild.“

„Doch auch wenn die innere und äuβere Not den Menschen ganz erdrücken, und er nicht mehr weiter weiβ, kommt es für Albert Camus auf die Pause zwischen Ja und Nein an, fuhr Jurik fort. Er schreibt:

„Einfach – alles ist einfach im wechselnden Lichtstrahl des Leuchtturms, grün, rot, weiβ; in der Kühle der Nacht und den Gerüchen der Stadt und des Elends, die bis zu mir heraufdringen. Wenn es heute abend das Bild einer bestimmten Kindheit ist, das zu mir zurückkehrt, wie sollte ich da nicht die Lehre von Liebe und Armut annehmen, die ich daraus ziehen kann? Da doch diese Stunde gleichsam eine Pause ist zwischen Ja und Nein, verspare ich auf andere Stunden die Hoffnung oder den Abscheu vor dem Leben. Ja, einzig die Durchsichtigkeit und Einfachheit der verlorenen Paradiese fassen: in ein Bild. “

Die Pause zwischen Ja und Nein kann ein Christ eine Sternenstunde nennen“, erklärte Orélie, „doch geht aus Albert Camus‘ Sätzen hervor, dass er nicht zum Glauben an Gott gefunden hat. Er schreibt:

„Aber wo bin ich im gegenwärtigen Augenblick? Ich weiβ nicht mehr, ob ich lebe oder ob ich mich erinnere. Die Lichter des Leuchtturms sind da. Ich will diesem so gefährlichen Hang nicht mehr folgen. Freilich betrachte ich ein letztes Mal die Bucht und ihre Lichter, freilich ist das, was nun zu mir heraufdringt, nicht die Hoffnung auf bessere Zeiten, sondern eine abgeklärte, ursprüngliche Gleichgültigkeit auch mir selbst gegenüber.“

„Du hast recht“, antwortete Jurik, „auch in seiner Schrift Licht und Schatten sowie in seinen Tagebüchern spricht Albert Camus zwar von einem ewigen Lächeln und dem Geheimnis der Welt, doch erkannte er in diesem Überwältigtsein schlieβlich sich selbst. So schreibt Albert Camus:

„Es genügt, dass ein Licht zu leuchten beginnt, und verworrene, betäubende Freude erfüllt mich. Es ist ein Januarnachmittag, der mich so der Lichtseite der Welt gegenüberstellt. Überall eine hauchdünne Schicht von Sonne, die unter dem Fingernagel aufsplittern würde, die aber alle Dinge in ein ewiges Lächeln kleidet. Wer bin ich und was kann ich anderes tun, als auf das Spiel der Blätter und des Lichts eingehen? Dieser Strahl sein, in dem meine Zigarette sich langsam verzehrt, diese Lieblichkeit und diese verhaltene Leidenschaft, die in der Luft schwebt. Wenn ich versuche, zu mir selbst zu gelangen, vermag ich es nur in der Tiefe dieses Lichts. Und wenn ich versuche, diese zarte Köstlichkeit zu verstehen und zu kosten, die das Geheimnis der Welt preisgibt, finde ich im Grund des Weltalls mich selbst. Mich selbst, das heiβt jenes überwältigende Gefühl, das mich aus meiner Umgebung heraushebt.“

„Für Karl Rahner führen solche Erfahrungen weder zu dem Menschen als sich selbst, noch verflüchtigen sie sich in einer Leere“, fuhr Orélie fort, „so schreibt dieser Theologe:

„Solche Grundtaten des Lebens setzen die Hoffnung auf Endgültigkeit, auf bleibende Gerettetheit des Lebens, bejahen die erste und letzte Voraussetzung solcher Hoffnung, die wir Gott nennen. Nur in solchem Glauben wird das untergegangene Leben von uns wirklich verantwortet, wird es nicht zu einem Dünger degradiert für eine Zukunft, die selbst wieder verschwindet im leeren Nichts.“

„Indes sehnt sich Albert Camus in seinem Essay Zwischen Ja und Nein danach, dieser Welt mit einer betrübten Gleichgültigkeit zu begegnen. Er schreibt:

„Nun überzieht sich das Feuer im Herd mit Asche. Und immer noch vernimmt man das Atmen der Erde. Eine dreisaitige Gitarre lässt ihren perlenden Singsang ertönen. Eine lachende Frauenstimme mischt sich dazu. Lichter nähern sich in der Bucht – die Fischerboote vermutlich, die in den kleinen Hafen zurückkehren. Aus dem dreieckigen Stück Himmel, das ich von meinem Platz aus erblicke, ist alles Gewölk des Tages verschwunden. Von Sternen überquellend, erbebt er in einem reinen Hauch, und rings um mich regen sich langsam die leisen Schwingen der Nacht. Wie weit wird diese Nacht führen, in der ich nicht mehr mir selbst gehöre? Es liegt eine gefährliche Kraft in dem Wort Einfachheit. Und heute abend begreife ich, dass einen danach verlangen kann, zu sterben, weil gemessen an einer gewissen Durchsichtigkeit des Lebens alles belanglos ist.“
„Demgegenüber schreibt Karl Rahner in seiner Meditation zu Neujahr: „So also kommst du, neues Jahr. Ein Jahr wie alle andern auch. Ein Jahr der Plage, der Enttäuschung an mir und den andern. Wenn Gott das Haus unserer Ewigkeit baut, errichtet er schöne Gerüste, um diesen Bau aufzuführen. So schön, dass wir am liebsten in diesen wohnen und an ihnen nur das schlecht finden, dass sie wieder abgebaut werden. Diesen Abbau nennen wir dann die schmerzliche Hinfälligkeit unseres Lebens, klagen und werden melancholisch, wenn wir im Blick auf ein neues Jahr auch nichts zu sehen meinen als den Abbau des Hauses unseres Lebens, das in Wirklichkeit hinter diesen auf- und abgebauten Gerüsten still und für eine Ewigkeit auferbaut wird. Nein, das kommende Jahr ist kein Jahr der Enttäuschungen und kein Jahr der schönen Täuschungen. Es ist Gottes Jahr. Das Jahr, in dem mir Sternenstunden leise und unauffällig entgegengehen, in dem die Fülle meiner Zeit einziehen will in mein Leben. Ob ich sie bemerken werde? Oder ob sie leer bleiben werden? Weil sie mir zu klein, zu demütig und alltäglich vorkommen werden?“

Jurik schaute auf Orélie, die ihre Blicke durch die Fensterscheibe hindurch in die Ferne gleiten lieβ. Dann sagte er: „ Anstrengen brauchst du dich nicht, Sternenstunden kannst du nicht herbeirufen wollen.“ „Das weiβ ich auch ohne deine Belehrung“, antwortete Orélie mit einem verhaltenen Lächeln.


Das absurde Denken
Das Engagement
Der Atheismus
Der Fall
Der Tod
Die Freiheit
Die Geschichte
Die Gnade
Die Gottesferne
Die Pest
Die Revolte
Einleitung
Jesus Christus
Zeitungsartikel
Zwischen Ja und Nein
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren